Was wusste Justin Hagenberg-Scholz?
Während Dietfried Dembowski auf der Kranichfarm auf die Ankunft seiner Lebensfreunde wartet, umgibt sich Berenice Hagenberg-Scholz mit der Vergangenheit.
Berenice Hagenberg-Scholz nahm den kleinen Schlüssel vom Mauervorsprung im Windfang, um das Postfach neben der Haustür zu öffnen. Ein Maxibrief lugte hervor. „Oh“, dachte sie, „das Fotoalbum ist schon da“.
Es war ihr eine liebe Gewohnheit, in den ersten Tagen des Jahres, aus denen manchmal auch Wochen wurden, denn sie liebte ihre Aufnahmen, aus den schönsten Fotos ihrer Mediathek ein Album zu formen. Liebevoll kuratierte sie die Bilder und schrieb kleine Kommentare dazu. Das Ganze ging schnell mit einer Software und kaum war das Datenpaket abgeschickt, lag das fertige Album im Postkasten. Das moderne Leben behagte ihr.
Sie verspürte wenig Lust, das Album allein durchzublättern, sie entschied, damit auf Justin zu warten. Als sie das Fotobuch ins Regal stellen wollte, fiel ihr Blick auf die Werke der Vorjahre. Sie nahm ein Album vom Beginn des neuen Jahrtausends in die Hände und blätterte es durch.
Als Berenice das Shirt sieht, versagen ihre Nerven
Es war das Jahr von Justins Universitätsabschluss, und er stand mit einer dieser lustigen Kopfbedeckungen vor der TU. Sie an seiner Seite und Elternteile darum gruppiert. Alle schauten glücklich. Die Zeit der Unschuld. Als die Geschichte für kurze Zeit pausierte.
Sie griff das Album aus 2020 und fand ein lustiges Gruppenbild. Unter dem Bild stand: „Die ganzen Bande“, wie sie die Stammcrew aus dem Soldiner Eck liebevoll nannte, Hauke, Wu, der Ermittler, Justin und eine ihr unbekannte Person. Sie alle trugen Maske. Die Jahre der Pandemie. Sie waren Sandkörner im Getriebe der Zeit.„Was wohl die Internationalisierungsexpertin Wu macht?“, murmelte sie.
Justin trug sein Lieblingsshirt. „The truth is in the data!“, stand dort in dicken, grünen Lettern auf rotem Hintergrund. „Wusch!“ All die Daten, die er jemals gesammelt hatte, flogen durch den Raum und entwichen in Richtung Gesundbrunnen Center. Wenn sie genau hinhörte, konnte sie die Fangesänge der Hertha-Anhänger vernehmen. Sie standen wieder in der Plumpe, waren über die Millionenbrücke vom Arkonaplatz in Richtung Stadion gepilgert. Sie musste unbedingt an ihre Medikamente denken.
Ist Justin Hagenberg-Scholz ein Verräter?
Sie war so sehr in ihren Gedanken versunken, dass sie kaum wahrnahm, was im Radio, das im Hintergrund lief, gespielt wurde. Zunächst dachte sie an ihre Großmutter, danach an die auf tragische Weise verstorbene Hündin RaRa und schließlich an ihren Mann Justin, dem Meister der Daten und Modelle, den es immer wieder zum Fußball zog.
Der Fußball war ihrer Meinung nach schon lange verloren: Der sogar ihr sympathische Hertha-Präsident war plötzlich und unerwartet verstorben, Messi war aus Gewohnheit schon wieder Weltfußballer geworden, die Saudis bekamen eine WM, Jürgen Klopp und Aki Watzke hatten ihre baldige Demission avisiert und in Hamburg war wieder diese blöde SpoBis. Sie sah sich mit einem dicken Stück Baufleisch und einer Fanta auf einem Ascheplatz im nördlichen Ruhrgebiet. Damit hat dieser Fußball nichts mehr zu tun. (Ach, Berenice! Hättest Du nur gewusst, welche Rolle Dein geliebter Justin spielt!)
Kopfschüttelnd stellte sie Alben wieder in der richtigen Reihenfolge und ging in die Küche, um ein Blech mit frischem Gemüse, das sie mit Walnüssen und etwas Schafskäse zum besseren Geschmack ergänzte, zuzubereiten. Sie verlor sich im Schnippeln von Tomaten, Paprika, Zucchini und Aubergine und schob kurz darauf das Blech in den Ofen. Sie merkte stirnrunzelnd auf, als ihr gewahr wurde, was sie da im Radio spielten: „Nightfall“ von Cassandra Complex. Im Lodenmantel ihrer Tante, einer passionierten Klavierlehrerin, war sie dazu vor vielen Jahren die Tanzflächen der Umgebung 3-vor-3-zurück abgeschritten.
„Was von heute in einem Jahr ist?“, fragte sie sich. Ein kleiner Schauer ging über ihren Rücken. Sie dachte nach. Zählte zusammen. Und sprach dann laut aus: „Es wird noch mehr Krieg geben, auch hier!“
Sie nahm ein leeres Blatt Papier aus dem Drucker, griff ihren Füller und das Tintenfass, setzte sich an den Tisch im Esszimmer und schrieb auf, was nun zu tun war.