Sie sind alle am Borsigplatz geboren
Hans-Joachim Watzke kündigt seinen Rückzug an. Dembowski und JHS sitzen in einem Hinterzimmer des Soldiner Ecks und Edin Terzić plant eine spektakuläre Aktion.
Justin Hagenberg-Scholz verzweifelte. Immer wieder rauschte er durch seine Tabellen. Sein Blick wurde immer leerer. „Da ist nichts, Dietfried“, sagte er und schaute noch ein wenig verzweifelter auf die Leinwand. Und da war wirklich nichts. JHS hatte die letzten Nächte in seinen Daten verbracht. Er war in seine digitalen Archive hinabgestiegen und hatte überhaupt nichts mehr mitbekommen. Er war ohne Plan, was da draußen passierte. Er sah nicht die Traktoren, die aus Brandenburg kommend über die Prinzenallee in die Stadt schlichen und für eine Blockade sorgten, die die ohnehin von der Winterkälte und der ewigen Dunkelheit erschöpften Gestalten des Gesundbrunnens direkt in die Arme von Hauke Schill zu treiben.
Der Wirt hatte JHS und den Ermittler in den kleinen Raum der Kneipe gesperrt und diesen abgeschlossen. Immer, wenn Kai die Treppe herunterstolperte, musste Dembowski also aufstehen, die Tür öffnen und in Gesichter blicken, die er noch nie hier gesehen hatte. Er fragte sich langsam, was mit Schill passiert war. Um ihn schwirrten die Studierenden der Stadt und labten sich am frisch gezapftem Schulle. Draußen vor dem Fenster fiel schon wieder Schnee.
Er hatte genug gesehen. Er wollte nur noch auf die Kranichfarm, zurück zu Dörte und Koi, der, so berichtete Dörte, unter der dicken Eisschicht das wilde Leben des Sommers vermisste. „Nicht einmal gründeln will er“, hatte Dörte gesagt und Dembowski von der kommenden Sonne träumen lassen. Dann würde er wieder in den See steigen und mit Koi die Annehmlichkeiten des Karpfenlebens genießen.
„Geheimbotschaften“ im Internet
Bis dahin jedoch war es ein weiter Weg. Vor der Sonne standen noch lange Monate der ewigen Dunkelheit. Gerade als Dembowski von der Mittelllandkanalblockade las, die im Raum Minden für ähnlichen Stillstand sorgte wie einst die Evergiven im Suezkanal, klingelte sein alter Nokia-Knochen. Sicher war sicher. Wird wohl um den Sancho-Deal gehen. Der saß jetzt schon seit etlichen Tagen in seinem leer geräumten Haus in der alten Industriestadt. Sogar seine Konsole hatte er schon verpackt und wusste nun nichts mehr mit sich anzufangen.
Wie JHS ihm gezeigt hatte, war es Sancho derart langweilig geworden, dass er sein komplettes Instagram erst gelöscht und dann mit neuen Merkwürdigkeiten versehen hatte. Die, die darin etwas lesen wollten, verbreiteten im Sekundentakt die „Geheimbotschaften“ und überhöhten sie, weil sonst nichts mehr da war, was sie überhöhen konnten. Die Menschen hatten sich ohnehin längst abgewendet. Denn kaum einer hatte die Freiheit, sich jeden Tag diesen dramatischen Entwicklungen auszusetzen.
„Dembowski“, sprach Dembowski in seinen alten Nokia-Knochen und jemand sagte, dass Watzke Borussia Dortmund verlassen werde. Es war gerade Montag, und es fühlte sich bereits an wie ein ganzes Jahr. Die letzten 20 Jahren zogen am Ermittler vorbei. Sie alle waren älter und erschöpfter und die Welt noch verkommener geworden. Er würde noch einmal in seiner DVD-Sammlung kramen und die alten Boxsets finden müssen. „Wir sind alle am Borsigplatz geboren“ war nicht nur für den Ermittler die womöglich brillanteste Erzählung der jüngeren Fußballgeschichte.
Eine geniale Serie
In epischer Breite erzählten die mittlerweile 19 Staffeln vom Aufstieg eines sauerländischen Textilunternehmers zu einer der einflussreichsten Figuren im deutschen Fußball. Neben der wohl großartigsten Szene, die den Helden mit seinem Lebensfreund Jürgen Klopp schlafend auf einem Hühnerlasten zeigen, während der mittlerweile zu einem Weltenretter aufgestiegene Neven Subotic in der vorherigen Einstellung nackt auf einem Auto tanzt, hatte Dembowski besonders den Wechsel von den schnell geschnittenen Anfangsjahren auf den absoluten Stillstand in den Jahren darauf fasziniert.
Die Serie hatte die Verlorenheit der Protagonisten in der sich immer schneller drehenden Welt des Fußballs überragend herausgearbeitet, in dem sie nämlich nach dem Abgang von Jürgen Klopp auf jedes Tempo und auf jeden Höhenpunkt verzichtet hatte. Der BVB bewegte sich in Zeitlupe, der Sport veränderte sich in Mach 2. Bald also würde sie enden. Vor einigen Jahren schon war Edin aufgetaucht, ganz früh in einer Nebenrolle, bald aufgestiegen zu einem Zuarbeiter des abwartenden Schweizers auf der Bank. Danach hatte er, der in der großen 2012er-Staffel nur einmal ganz kurz beim Double-Gewinn im Fanblock des Berliner Olympiastadions zu sehen war, sich immer weiter in den Vordergrund gespielt. Er würde die Serie bis zum Ende begleiten, den zwischenzeitlich in Richtung Shanghai abgedrifteten Klub zurück an den Borsigplatz führen. Aber eins war auch klar. Er war ein anstrengender, fordernder Charakter.
Wie sich schon bald zeigen sollte. Denn nur zwei Tage nach dem ersten Anruf meldete er sich persönlich. Mit einigen Regieanweisungen. Es ging immer noch um Sancho. Es ging darum, wie er nach Deutschland gebracht werden würde. Und welche Bilder dabei gezeigt werden sollten.„Die Maschine“, sagte er also nun zu JHS und Dembowski, die sich ja seit etlichen Tagen im Hinterraum des Soldiner Ecks verschanzt hatten, „soll lauter sein als jemals zuvor!“ Seine Stimme hallten durch den Raum, aus dem Kneipenraum legte die Jukebox ihre Fetzen über die Stimme. Ein alter Sack musste sich unter die Studierenden gemischt haben.
Jetzt wird es laut
Der Industriesound der Huwe kämpfte um Anerkennung. „Lauter als jemals zuvor“, wiederholte die Stimme aus den Lautsprechern. „Wir wissen nicht mehr, wir machen“, sang Huwe. Und noch einmal rief die Stimme „Als jemals zuvor.“ Sie hatten es verstanden und waren sprachlos. Er musste doch wissen, was passiert war. Edin war zu einer Comicfigur geworden oder zu einem „Meme“ nach Anerkennung flehend noch vor wenigen Stunden betont hatte. „Wir wissen nicht mehr, wohin die Reise geht“, dröhnte Huwe über die Induestriebeats und Edin verzweifelte. „Das wissen wir doch!“, rief er. Dembowski beschwichtigte ihn. „Das wissen wir doch, Edin.“ „Wir flehen nicht mehr, wir handeln!“, sang Huwe und Edin stimmte ein: „Einfach mal handeln.“
Dembowski verzweifelte. So würden sie den Transfer nicht abschließen können. So würden sie Sancho nicht aus dem Theater der Albträume holen und ihn nach Hause bringen können. „London, Paderborn!“, sagte JHS. „Aber lauter als jemals zuvor“, rief Edin und Huwe sang „wir wissen nicht mehr“. Dembowski kroch unter den Tisch. Er wollte nicht mehr. Aber es musste. Sancho musste in die Luft. Noch ein paar Minuten auf Instagram und er würde schon wieder die Farbe seiner Stutzen wechseln. Er war wirklich der gelangweilteste Mensch der Welt.
Edin hat genau drei Fragen
Zum Glück hatte JHS den Plan bald ausgearbeitet. Die Maschine würde ihn aus Manchester abholen, in London am City Airport heruntergehen, dort zu einer Lightning II werden und Richtung Paderborn aufbrechen. Das war so komplex wie simpel. Die Transferfüchse würden das Manöver nicht sehen. Die Kosten waren unerheblich, denn am Ende würde, so zumindest die Gewissheit der Dortmunder, Sancho den Verein in die neue Königsklasse und vorher vielleicht sogar nach Wembley führen. Da war alles andere egal.
Sie plauderten noch eine Weile am Telefon, um mehr über die Hintergründe zu erfahren. „Was willst Du, was brauchst Du, was kann ich dafür erwarten?“, hatte Edin seinen ehemaligen Heldenspieler gefragt und der ihm geantwortet. Er wollte nach Hause, er brauchte einen Flieger und er wollte sämtliche Rekorde sprengen. „Bei uns kann er zeigen, dass er noch lange nicht fertig ist“, erzählte Edin jetzt über die Lautsprecher. „Aber, das muss er wissen: Ich habe keine Zeit, er hatte kein Zeit, wir haben keine Zeit!“ Dann verstummte die Stimme.
Dembowski hatte aufgelegt. „Wieso machst Du das?“, fragte JHS. „Ich ertrage es nicht mehr. Kann der nicht seinen Pathos einmal abstellen?“. JHS schüttelte den Kopf. Das könne er nicht und ohnehin habe er ganz andere Probleme. Sein Blick wurde immer leerer. „Das ist nichts, Dietfried“, sagte er und zeigte auf seine Tabellen. Und da war nichts. Kein einziger Hinweis. Die Daten spuckten nichts aus. Jadon Sancho würde in Dortmund, das zeigten alle Daten, nichts verändern.
„Wohin führt Euch Gott?“
„Job ist Job“, sagte Dembowski. Er betrachte es ganz pragmatisch. Er würde nichts mehr an diesem Verein ändern können. Die Dortmunder waren sich selbst genug und jammerten über dies und über das und darüber, wie schwer sie es hatten. Dann warfen sie ihr Geld wieder zum Fenster raus. Und warteten, dass die UEFA ihren Zahlungsverpflichtungen nachkam. Daran würde sich bis Ende 2025 jetzt nichts mehr ändern.
„Wir müssen los“, sagte er. JHS nickte wissend. Er nahm sein Macbook. Auf dem Weg hinaus trafen sie auf den Prince, der auf einen Traktor gestiegen war und den Bauern von Jesus erzählte. „Wohin führt Euch Gott?“, fragte er und Dembowski schüttelte den Kopf. Was war nur passiert.
Stunden später fuhren sie kurz vor Dortmund von der Autobahn und postierten sich an der alten B1. Der Flug hatte London längst verlassen und hatte Kurs auf Paderborn genommen. Plötzlich aber verschwand die Maschine. Dann wurde es lauter. Lauter als jemals zuvor. Ein Tarnkappenbomber jagte über sie hinweg, geradewegs auf die Landebahn des Dortmunder Flughafens zu. Die dort rumlungernden Journalisten sahen die Maschine nicht. Auf den umliegenden Straßen hielten sich die Menschen die Ohren zu. Auf einer Wiese fielen zwei Kühe um. Sancho landete und als er die Maschine verließ, kniete er kurz und küsste den Dortmunder Asphalt. Er war zu Hause und er würde lauter sein als jemals zuvor. Das hatte er Edin versprochen.