Nuri Şahin - wie es wirklich war
Im Soldiner Eck wird weiter gebaut. Es nimmt Gestalt an. Auch JHS und Dembo sind wiedervereint. Sie stehen gleich vor einer gigantischen Aufgabe.
Dezember 30, 2023
Die Sonne hat sich längst über der Stadt erhoben, als Genevieve Heistek die Tür zum Soldiner Eck aufstieß. Sie war die ganze Nacht durchgefahren, hatte sich über wildgewordene Flüsse und zugestopfte Autobahnen gequält und ihren Wagen direkt an der Friedhofsmauer in der Wriezener Straße geparkt. Im Schlepptau ein älter Herr, dem nun der Rauch den Schlaf aus den Augen spülte. Kai stürzte sich auf die erste Frau, die er jemals im Soldiner Eck gesehen hatte. Die interessierte sich nicht für die Person. Auf einer Bank im hinteren Raum lagen Justin Hagenberg-Scholz und Dietfried Dembowski. Sie schliefen.
„Endlich normale Leute“, stieß der ältere Herr aus. Schill staunte. Den Mann kannte er. November 2013, 5:0 für den HSV. Das war sein Ende. Danach tingelte er über die hinteren Reihen der Trainerbänke des deutschen Fußballs. Sein zweiter Mann war sicher nicht Erfolg. Was wollte er hier? Der Mann schritt zur Jukebox und kramte in seiner Tasche. Nichts, nur Scheine. „Haben die mir mitgeben“, sagte er. „Die haben überhaupt nicht mehr geredet. Nicht mit mir, nicht untereinander, nur manchmal, wenn die Lichter der Kameras angingen.“ Er sah Kai. „Hey, Sie! Haben Sie eine Münze für mich?“ „Für die Jukebox. Gerne. Ich arbeite bei der Weltbank.“ Kai drückte ihm zwei Euro in die Hand. Jetzt spielte die Leandros groß auf.
Dembowski sprang auf, griff zum Schulle und konnte es nicht glauben. Ja, auch er liebte das Leben. Sein Plan hatte funktioniert. Obwohl. Eigentlich war es nicht sein Plan, aber JHS schlief jetzt und das war auch gut so. Es war auch egal: Das Karussell hatte sich weitergedreht und das würde immer so sein.
Dezember 28, 2023
Die Sonne war noch lange nicht hinter der Panke verschwunden, da stand Dembowski auch schon auf der Matte. Er hatte sich durch den Böllerhagel des nördlichsten No-Go-Kiez der Berliner Innenbezirke gekämpft, war fliegenden Tannenbäume wie zielgenau abgefeuerten Raketen ausgewichen und hatte es letztlich unbeschadet bis zum westlichsten Ende der Soldiner geschafft.
Ganz am Ende, dort, wo einst die Mauer zu sehen war, hatten sie die Baulücke geschlossen und auf „Schöner Wohnen im Gesundbrunnen“ gemacht. Ein paar Crackheads hatten es sich auf dem Streifen davor gemütlich gemacht und rauchten genüsslich an ihren Pfeifen.
Sie ließen sich von dem Bauboom in diesem desolalten Teil der Stadt nicht beeindrucken. Bis dahin aber wollte Dembowski nicht. Er stoppte vor dem Soldiner Eck. Schill hatte die Leuchtschrift abmontiert, das Schulle-Männchen war ebenfalls verschwunden. Doch die Tür stand offen. Mit einem kräftigen Tritt öffnete er sie, stellte sich breitbeinig in den Raum und ließ seinen Blick wandern. Ganz hinten drückte sich eine ganz in schwarz gekleidete Person durch einen Spalt in der Decke und verschwand.
Aus dem Kellerloch stemmte sich Schill hervor, ein Radio plärrte „sag mir, dass ich dir auch so fehl’n werd / so wie du mir fehlst jede Nacht“ und JHS inspizierte einen riesigen Bauplan. Die Welt hatte sich gedreht und auch hier im Eck war sie aus den Fugen geraten. Doch es war alles zu verkraften.
Die Rettung beginnt mit Schulle für alle
„Einmal Schulle für alle“, rief er in den Raum, der in Zukunft wieder das Soldiner Ecke sein sollte, jetzt aber nicht mehr als eine verlassene Baustelle war. Schill hatte nach Dembos Anruf bei JHS alles liegenlassen und war in den Keller geeilt. Irgendwo fanden sich noch ein paar Kisten mit den Steinis, die er oben in Oranienburg eingelagert hatte.
Der Ermittler platzierte sich mitten im Raum. Er konnte es kaum glauben, aber JHS war tatsächlich gekommen. Er hatte sogar seine gesamte Batterie mitgebracht. „Auf dem iPad hat Edin immer die Gegentore geschaut. Konnte es bei Kleinanzeigen günstig schießen. Starkes Ding. Sogar noch die Analysesoftware drauf, habe meinen Kram draufgespielt. Jetzt ist es perfekt“, sagte JHS und warf direkt noch seinen Computer an.
Das Vorhaben war so kompliziert wie eindeutig. Der BVB benötigte die Rettung. Er brauchte etwas, das die Vergangenheit zerstörte und sie doch atmete. Was im Prinzip in Dortmund kein Problem ist. Es war ein Verein, der ohne Aussicht auf eine Zukunft in einer ewigen Gegenwart verharrte und sich dort eingenistet hatte. Tabellarisch änderte sich seit Jahren nichts. Die Verklärung der Vergangenheit war in Wahrheit eben immer noch die Realität der Gegenwart.
„Ohne KI, Dembo, ohne KI!“
„Ein Fall für Piotr“, murmelte Dembowksi. Obwohl ihm natürlich klar war, dass dieser Piotr nicht so einfach reaktiviert werden konnte. „Schill, schmeiß doch mal die Jukebox an“, rief der Ermittler. Aber die war hinüber. Ohne Jukebox kein Enon Disco ohne Enon Disco kein Piotr. Die Rechnung war einfach.
JHS und Dembowksi mussten ohne den Mann auskommen, dessen Vergangenheit unsere Zukunft und Gegenwart war. JHS nahm einen großen Schluck KiBa und tippte ein paar Befehle in seinen Computer. „Ganz ohne KI, Dembo, ganz ohne KI!“, sagte er nicht ohne Stolz. „Wir müssen schauen, was den BVB daran hindert, eine Zukunft zu haben und müssen danach die Vergangenheit nachbilden, sie mit der anderer europäischer Vereine vergleichen und Wege aus dem Nichts finden. Es ist Unterfangen, dem wir uns stellen müssen.“
Dembowski schüttelte sich. Er hatte in dem Jahr seit Lusail vergessen, was für ein unerträglicher Besserwisser JHS doch war. Damals hatte das zu dem Zerwürfnis unter dem Walhai geführt, doch Zeit fraß jeden Schmerz und auch die Erinnerung an die Tage der Dunkelheit. Am Ende war es eben jener Hagenberg-Scholz ohne den er nicht konnte, der seine Datenbank und sein Gewissen war.
Die Fakten liegen auf dem Tisch, sie müssen runter
Für den Ermittler lag die Sache auf dem Tisch. Der BVB hatte sich im Mai 2023 ja nicht ohne Grund in die Angststörung geflüchtet. Zum ersten Mal seit 10 Jahren gab es etwas zu gewinnen. Zum ersten Mal ging es nicht darum, nicht zu verlieren, sondern ja wirklich etwas Triumphales zu gewinnen. Etwas, das natürlich auch in Zukunft als Meisterschaft von Bayerns Gnaden erzählt worden wäre. Wie einst die ominöse Millionenspende der Bayern dem BVB angeblich die Existenz gesichert hatte, so wäre die Befreiung aus dem Gefängnis der Gegenwart, immer über die Münchener erzählt worden.
Dabei hatten sich eben die massiven strukturellen Unterschiede seit der durch den italienischen Schiedsrichter Nicola Rizzoli verhinderten Machtübernahme 2013 und dem Kagawa-Fluch im folgenden Jahr vor dem BVB aufgetürmt. Die Dortmunder waren nur noch damit beschäftigt, mit aller Macht ihren Status als zweiter Leuchtturm zu verteidigen, waren dabei aber in einen derartigen Rückstand gerannt, dass sie nie wieder nur in der Nähe des Rekordmeisters kommen würden.
Trainer kamen und gingen und verbrannten sich an der Borussia und die an ihnen. Ob Tuchel, Bosz, Stöger, Favre, Rose oder eben jetzt Terzic – sie alle konnten ja nichts daran ändern, dass es zwar kleine Möglichkeitsfenster gab, durch die sie sich hätten quetschen können, die sie am Ende aber wieder vernichtet hätten. Wo nur noch Vergangenheit war, würde nie eine Zukunft blühen.
Der BVB wollte mithalten und konnte nicht, lud sich dabei mit Scheitern auf und verkaufte, ohne es zu wollen, in jedem Sommer wieder die Spieler, die einen Ausbruch aus der Perspektivlosigkeit hätten garantieren können.
Diese verdammte Angststörung
Im Mai war die Angst dann zu groß geworden und rund um diese verpatzte Meisterschaft gab es Wahrheiten, die niemand aussprechen durfte. Allein von ihnen zu wissen, war gefährlich. Sie in die Öffentlichkeit hinauszuposaunen, bedeutete den sicheren Tod. Auch deswegen hatte Dembowski geschwiegen. Er fürchtete den Tod nicht, wie auch bei seinem rasanten Leben, doch noch war er nicht bereit dafür.
Warum der Verein so geworden war, konnte niemand erklären und die, die es hätten tun können, schwiegen, wie eben auch Dembowski, aus Angst davor, dass die Wahrheit ihre Existenz vernichten würde. Der BVB war das geworden, was niemand sein wollte. Ein aufgescheuchter, von der Panik des Statusverlusts zerfressener Haufen, der das Adrenalin der Nuller erst in die echte Liebe der Zehnerjahre und schon bald in eine existenz-, ja lebensbedrohliche Energie verwandelt hatte.
Der sich zudem auf dem Platz neuerdings mit Nationalspielern brüstete, die in der seit Jahren abstürzenden Graugänsen der DFB-Elf selten überhaupt eine größere Rolle spielten. Die für viel Geld anderen Bundesligisten weggekauften Spielern waren nicht einmal in der Lage, sich in die von allen Seiten aus purer Not vor jedem Turnier gnadenlos überschätzte Nationalelf zu spielen.
Bayer Sternschnuppe Leverkusen
„Der BVB“, analysierte JHS mit einem Blick in seine Daten, „verpflichtet seit Jahren durchschnittliche Spieler von durchschnittlichen Bundesliga-Vereinen und will sich damit über den Durchschnitt erheben. Das ist schon auch ein kleines Problem!“ Ein anderes hatte Dembowski ausgemacht. Es betraf nicht einmal die Dortmunder, sondern die Konkurrenz. Denn zur Wahrheit gehörte eben auch der Aufstieg anderer Klubs, manchmal sogar der Aufstieg zu Publikums- und viel mehr Expertenlieblingen.
Auch diesen Sternschuppen bot sich ein Möglichkeitsfenster, dachte Dembowski. Doch für diese bald verglühenden Himmelsphänomene war es einfacher hindurchzukriechen und sich in der dem BVB abhanden gekommenen Zukunft einzurichten. Denn sie lebten immer in einer hoffnungsspenden Zukunft.
Bayer Leverkusen war so ein Fall. Sie hatten in dieser Saison alles auf die Champions League geschmissen. Zu reich war sie ab der Saison 2024/2025, um sie aus Interessenlosigkeit zu verpassen. Das Bayer-Werk hatte noch einmal die Schatulle geöffnet und der Supertrainer Xabi Alonso ein Team geformt, von dem die Liga noch in Jahrzehnten reden würde. Niemand erwartete je etwas von Leverkusen und kaum jemand hatte sein Herz an diesen Verein verloren. Dem haftete auch nach Jahrzehnten in der Liga immer noch der Plastikgeruch an und er würde ihn auch nie loswerden.
Dass nun aber die Bosse auf große Hose machten und sich auch in der Liga in den Vordergrund drängten, bei der Investorenentscheidung ja sogar zu den Wortführern heraufschwingen konnten, die mit ihren unverhohlenen Drohungen am Ende vielleicht für die entscheidende Stimme gesorgt hatte, war auch auf die eigene Bedeutungslosigkeit zurückzuführen.
Die Totengräber
Die, die guten Fußball sehen wollten und doch der Bundesliga nachhingen, liebten Leverkusen dafür, dass sie auf dem Platz bedingungslos den Erfolg suchten und die Gegner herspielten. Die, die Leverkusen bewunderten, waren die, die als Totengräber des Gesellschaftsspiels Fußball durchgingen. Sie verstanden Fußball vom Mittelkreis her und nicht von der Tribüne. Sie konnten mit Terzic und dem Dortmunder Heldenfußball nichts anfangen. Das Problem war, dass auch die Dortmunder mit dem Fußball immer weniger anfangen konnten.
Es war ja einfach: Heldenfußball brauchte Helden und der letzte Dortmunder Held war ohne Einsatz im letzten Saisonspiel 22/23 nach Madrid abgewandert und revolutionierte dort als neuer Zidane den Weltfußball. Schon einmal war das Geschehen. Damals als Klopps Gegenpressingrevolution die Liga im Sturm einnahm und der BVB alle Sympathie auf sich vereinte, weil er sich aus dem Vorzimmer der Pathologie zur heißesten Mannschaft Europas erhoben hatte, wie Hans-Joachim Watzke aus Erlinghausen damals immer wieder betont hatte.
Diese sogenannten Fußballliebhaber des Jahres 2023 waren jetzt aber die Vorhut einer Moderne, die nichts mehr auf Zusammenhalt gab und Vereinzelung als Entwicklungsziel herausgegeben hatte. Es war eine Moderne, in der Borussia Dortmund nichts mehr zu suchen hatte, dachte Dembowski genau in dem Moment, in dem JHS „Arteta“ rief und den Ermittler aus seinen Gedanken riss.
Die Lösung heißt Arteta
„Arteta?“, fragte Dembowski und kippte noch ein Schulle in sich hinein. „Arteta“, sagte JHS und zeigte auf sein iPad, auf dem das Leben des Spaniers im Schnelldurchlauf zu sehen war. „Das ist der, der Alonso nicht ist“, sagte der Datenspezialist und sezierte die Stationen des Spielers und auch die des Trainers.
Arteta hatte es geschafft, Arsenal nach den Wirren der letzten Wenger-Jahre und den Irrungen der Zwischenzeit eine neue Identität zu schenken. Er war es, den JHS auf dem Terzics iPad gesucht hatte.
„So einen Mann braucht der BVB. Einen, der das Mittelfeld gedacht und von großen Trainer bei großen Vereinen gelernt hat. Einer, der das Spiel kennt und der den Verein fühlt. Einer, der weiß, wie sich Strategie anfühlt und einer, der weiß, wie und wo Borussia Dortmund lebt.“ Borussia Dortmund war auch einmal ein großer Verein, dachte der Ermittler. Behielt das aber für sich.
Er schaute JHS an. „Komm schon. Die Fußstapfen Alonsos waren schon bei Real Sociedad zu groß für Arteta. Er ist kein Welt- und schon gar kein Supertrainer. Was soll das?“ „Du willst es nicht sehen?“ „Ich sehe es doch. Aber …“ Weiter kam der Ermittler nicht. Er stockte, weil er stocken musste. Der Prince war durch die Tür getreten und dankte dem Herrn für den Soldiner Kiez, dann war er wieder verschwunden.
“Die Wahrheit liegt immer in den Daten”
„Was’n mit dem passiert?“ „Der Prince? Der ist jetzt Christ!“, rief Schill rüber und sah in ein verzweifeltes Gesicht. Schill brachte auf den Schreck noch eine Runde. „Dembo. Ich war auch überrascht. Der ist wirklich jeden Tag hier jetzt. Kommt rein und geht wieder.“
„Das war schon ein guter. Bis er dann in Wolfsburg…“ „Wolfsburg, Wolfsburg. Du und Deine Elf vom Mittellandkanal, Dietfried. Reiß Dich endlich zusammen.“ „Aber…“ „Nichts aber! Wir brauchen Nuri!“ „Ich weiß. Aber woher weißt Du das?“ „Die Wahrheit liegt immer in den Daten“ Dembowski bezweifelte es. Aber Nuri war der, der Arteta nahekam.
„Kein Nuri ohne Manni“, sagte er nur und JHS nickte. Der Ermittler tippte ein paar Worte in sein Telefon. Dann tranken sie und schliefen für einen Tag und beinahe eine Nacht ein. Sie sahen nicht, wie Kai die Jukebox reparierte und wie das Soldiner Eck schon bald auch draußen im neuen Glanz erstrahlte. Sie waren zurück.