Malcolm Holcombe ist tot
In einem anderen Leben trifft Dietfried Dembowski auf den Musiker Malcolm Holcombe. Der ist am vergangenen Samstag gestorben. Er hat seine Spuren hinterlassen.
An der Ecke Unter den Linden und Glinkastraße im Berliner Regierungsviertel hatte es an diesem Wochenende zwei Autos zerlegt. Bei Sonnenaufgang standen sie in etwa zwanzig Meter Entfernung voneinander auf dem Prachtboulevard. Eines auf dem Bürgersteig und eines auf dem Fußgängerweg in der Mitte der Straße. Die noch schwache Sonne leuchtet die Installation aus, der Fernsehturm wachte in der Ferne über sie.
Einige Stunden später standen sie immer noch dort. Sie waren mittlerweile zu einer echten Attraktion geworden. Touristen schritten um sie herum, diskutierten den Unfallhergang und fotografierten sich mit den Autos, die niemand jemals mehr fahren wird. Ein Seitenairbag erinnerte stumm an die Ereignisse der Nacht, während von überallher Demonstrationen durch die Hauptstadt zogen.
Protesthauptstadt Berlin
Die einen protestierten für Israel, die anderen für ein freies Tibet. Sie liefen vorbei an den stummen Protesten und Gedenkstätten vor der Russischen Botschaft, vor der weithin sichtbar seit nunmehr zwei Jahren die ukrainischen Farben an den Krieg kaum 1000 Kilometer östlich der deutschen Hauptstadt erinnern.
Hinter dem Brandenburger Tor parkten ein paar LKWs. Ein kleiner Flohmarkt war aufgebaut. Sächselnde LKW-Fahrer*innen verkauften dort ihre Habseligkeiten und gingen in einen intensiven Austausch mit denen, die sich für die Angelegenheiten interessierten. Sie kämpften wohl für das Überleben der LKWs, wurden jedoch aus der Ferne von lauten Geräuschen der vor dem sowjetischen Ehrenmal auf der Straße des 17. Juni versammelten Friedenssuchenden übertönt.
Dort schwenkten sie russische und deutsche Fahne, junge Männer slawischer Herkunft schritten eilends in die Richtung, um ja keinen Ton der mit schriller Stimme sich in den Frühling schmeißenden Sprecherin zu verpassen. Sie informierte über chemische Kampflabore in der Ukraine, die unabhängige russische Beobachter inspizieren müssten, um den Weltfrieden zu garantieren. Verloren auf der anderen Seite bemühte sich ein sichtlich zorniger, kleiner Mann mit einem Mikrofon um eine Einordnung. Ein Polizist stand neben ihm, wohl um ihn vor der friedensbewegten Masse auf der Fahrspur Richtung Siegessäule zu schützen.
Der WM-Sommer 2006
Was hätte wohl Malcolm Holcombe zu dieser Szenerie gesagt? Mit dem saß ich vom Garden Living Boutique Hotel in der Invalidenstraße kommend wenige Tage vor dem WM-Finale der Frauen 2007 auf einer Bank an der Ecke Glinkastraße und Unter den Linden. Seine Plattenfirma Munich Records hatte den aus North Carolina stammenden Songwriter auf eine Promotour zum Europa-Release seines Albums "Not Forgotten" geschickt.
Das Garden Living Boutique Hotel war im Jahr zuvor zu meinem liebsten Hotel für Musiker geworden. Damals war der Pere-Ubu-Sänger David Thomas im ewigen heißen WM-Sommer 2006 nur wenige Tage nach dem Finale zwischen Frankreich und Italien nach Deutschland gekommen, um über sein Album "Why I Hate Women" zu reden.
Thomas war mir als exzentrischer, grummeliger Künstler beschrieben worden, der zu jedem Zeitpunkt explodieren können. Er konnte schon 2006 auf weit mehr als 30 Jahre im Zentrum des Musikgeschäfts zurückblicken, ich nicht einmal auf eine Dekade in der Peripherie. Doch die damals in Brighton lebende Punk-Legende war zu müde für einen Aufstand gewesen. Erst hatte sein Flieger am Vorabend nicht den Weg nach Tegel gefunden. So landete er am nächsten Morgen am alten Flughafen in Schönefeld.
Für David Thomas war es zu warm
Tropische Hitze mit über 30 Grad hatte über der Stadt gelegen und David Thomas sich dankbar gezeigt, dass er in einem Gartenhaus des Hotels genug Schatten bekam. Den Tag über sprach er im Halbstundentakt mit Journalisten, kippte unzählige Flaschen Wasser in sich hinein und genoss das Interesse an seiner Person und die konstanten Nachfragen, ob er denn wirklich Frauen hasse?
Er habe, sagte er mir, soweit ich erinnere, den Titel nur gewählt, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Das war ihm gelungen, wie auch ein Besuch bei Radio Eins in Potsdam zeigte. Thomas verabschiedete sich später völlig erschöpft von mir. Bei unserem nächsten Treffen erinnerte er sich nicht mehr an mich. Im Jahr 2021 erschien eine Wiederveröffentlichung des Albums unter dem neuen Titel „Why I Luv Women“. Die Welt war eine andere geworden.
Von diesem Hotel kommend also war ich mit Holcombe etwas über ein Jahr später mit der S-Bahn zum Brandenburger Tor gefahren und wir hatten uns dort gegenüber der Russischen Botschaft platziert. Wir saßen dort, weil sich für Holcombe kaum jemand interessiert hatte und wir nun den Tag rumbringen mussten. Da bot sich ein kurzer Spaziergang über den Boulevard natürlich an.
Nur wenige Monate zuvor war ich mit dem Musiker Jesse Malin, der gerade eine Single mit Bruce Springsteen veröffentlicht hatte, nach einem spärlich besuchten Konzert im Mudd Club in einem Kellergewölbe der Großen Hamburger Str. 17 in Berlin-Mitte einen ähnlichen Weg gegangen. Anstatt den traurigen Abend in einer Bar ausklingen zu lassen, hatte ich Malin und die Band für eine Tour durch die Nacht gewinnen können. Kurz zuvor hatte ich mich am 12. Mai 2007 dazu entschieden, Berlin hinter mir zu lassen. Als Ebi Smolarek im Westfalenstadion auf den Zaun kletterte, wollte ich diesem Ort näher sein und plante meine Rückkehr nach Dortmund.
Auch weil ich schon an diesem 21. Mai 2007 Abschied von Berlin nahm, freute ich mich über die Zusage der Band. An einem Späti deckten wir uns mit Bier ein, gingen über die Museumsinsel am Palast der Republik vorbei zur versunkenen Bibliothek am Bebelplatz und von dort über den Gendarmenmarkt erst zum Checkpoint Charlie und dann zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das wir - mittlerweile natürlich ohne Bier - in aller Stille durchschritten. Dann gingen wir durchs Brandenburger Tor.
Die Geschichte von Prince Michael II
Damals fühlte ich mich wie der älteste Mensch der Welt. So viel Schwere mitten in der Nacht. Um die Situation zu retten, erzählte ich am Adlon die Geschichte von Michael Jackson. Dem war dort an einer Balkonbrüstung stehend kurz vor der Bambi-Verleihung im November 2002 beinahe sein damals neun Monate alter Sohn Prince Michael II aus den Händen geglitten.
Die Bilder waren um die Welt gegangen und hatten einen Entrüstungssturm hervorgerufen, der in seinem Sound natürlich noch nicht mit den Shitstorms dieser Tage vergleichbar gewesen war. Doch der Moment hatte sich in dem kollektiven Gedächtnis festgesetzt.
Daran änderte auch der King of Pop nichts mehr, obwohl er sich daraufhin mit den Worten "ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht" und "ich würde niemals bewusst das Leben meiner Kinder gefährden" entschuldigen. Doch sogar dem Löffelbieger und Jackson-Freund Uri Geller fehlte jedes Verständnis für diese Aktion.
Jackson flieht nach Bahrain
Jackson war in den Folgejahren nicht mehr glücklich geworden. Der Missbrauchsprozess, in dem er sich gegen Anschuldigungen, unter anderem dem damals 13-jährigen Gavin Arvizo Alkohol verabreicht und ihn sexuell belästigt zu haben, zur Wehr setzen musste. Trotz eines Freispruchs im frühen Sommer 2005 hatte er sich nach Bahrain abgesetzt.
Dort hatte Scheich Abdulla bin Hamad al-Khalifa ein Tonstudio für Jackson errichten lassen. Der hatte dafür ein Album, eine Autobiografie, ein Musical und eine Cirque-du-Soleil-Show eingefordert. Jackson aber war dazu nicht mehr in der Lage. Es folgten Rechtsstreitigkeiten, eine außergerichtliche Einigung und wohl auch daraus ein für 2009 geplantes Live-Comeback. Doch vorher starb Jackson bei den Proben für die Konzerte.
Das war 2007 noch Zukunft. Malin und seine Band freuten sich trotzdem über die Geschichte, soweit sie denn schon geschrieben war und irgendwie hier am Adlon mitgeschrieben wurde. Sie fotografierten sogar das Fenster, auf das ich willkürlich gedeutet hatte. Ich kaufte mir ein Bier am S-Bahnhof Friedrichstraße und setzt mich am damals noch nicht umgebauten Tränenpalast ans Ufer der Spree.
Die Moorsoldaten
Mit Holcombe wollte ich im September 2007 eine ähnliche Tour machen. Doch der hatte, das merkte ich bald, daran kaum Interesse. Wie wir dort auf der Bank an der Ecke Glinkastraße saßen, redete er über seine Heimat an den Ausläufern der Appalachen in North Carolina und sein Leben am Rande der Gesellschaft. Seine Frau, sagte er, müsse ständig Coupons ausschneiden, um überhaupt die Einkäufe erledigen zu können. Unter der Beschreibung der Lebenssituation konnte ich mir kaum etwas vorstellen. Ich war froh, überhaupt zu wissen, wo North Carolina lag.
Wir redeten und redeten und irgendwann kamen wir darauf zu sprechen, wie Lieder überliefert werden und wurden. Wie sie sich über die Jahre musikalisch und textlich verändern, wie sie auch manchmal noch nach Jahrhunderten oder zumindest Jahrzehnten eine unglaubliche Kraft entfalten. Ich sang ihm "Die Gedanken Sind Frei" vor und erzählte ihm von den "Moorsoldaten". Das kannte er. Pete Seeger hatte es mal gecovert. Irgendwann standen wir auf, gingen in Richtung Brandenburger Tor. Ich wollte es ihm immerhin zeigen.
Als wir am Adlon angekommen waren, legte ich meine Michael-Jackson-Platte auf. Doch noch bevor ich zu dem Kind kommen wollte, war Holcombe außer sich. "Michael Jackson. I don't know any Michael Jackson", rief er so laut, dass sich sogar einige Passanten umdrehten. Ich schwieg. Wir gingen weiter über den Pariser Platz und durch das Brandenburger Tor. Holcombe war wie weggetreten. Er schwieg. Ich schwieg. Mein Telefon klingelte. Die Plattenfirma sagte den Rest der PR-Tour ab. Niemand wollte mit ihm reden. Ob ich denn das Hotel noch für ein paar Tage buchen könne?
“Coffee"
Holcombe schwieg und ließ alle mit sich geschehen. Das Hotel war nicht mehr zu buchen, doch in der Nähe fand sich eins, aus dem er mich die nächsten Tage immer wieder anrief. "Coffee?", fragte er und ich konnte nur ablehnen, denn meine Wohnung musste verpackt werden. Noch einmal fuhr ich zum Hotel, umarmte ihn und wir verabschiedeten uns. Ein paar Tage später zog ich nach Dortmund, auf dem Weg dorthin gewannen die Frauen im Finale der WM 2007 in China den Titel mit einem 2:0 gegen Brasilien. Ich zog bald wieder zurück nach Berlin. Fußball im Westfalenstadion war nicht alles im Leben.
Holcombe wurde weiterhin von vielen Musiker verehrt und von dem Rest der Welt ignoriert. Immer, wenn ich dieser Tage am Adlon vorbeikomme, denke ich an ihn und wie verloren der damals über 50-Jährige in Berlin gewirkt hatte. Er hatte mich in seiner Ablehnung alles Weltlichen beeindruckt. Für ihn war die archaische Musik seiner Heimat alles. Dafür ernte er die Anerkennung seiner Kollegen, aber keinen Wohlstand.
In der Nacht, in der es an der Ecke Unter den Linden und Glinkastraße zwei Autos zerlegte, starb Malcolm Holcombe nach langer, schwerer Krankheit mit 68 Jahre. Er ist nicht vergessen.