Ist ein anderer Fußball wirklich möglich?
Wie geht es nach dem Tod von Kay Bernstein weiter? Der Präsident von Hertha BSC lebt in seinen Ideen weiter. Ein anderer Fußball ist möglich, heißt es in den Stadien. Doch wollen das wirklich alle?
Kaum 48 Stunden nachdem sich der riesige Trauerzug für Kay Bernstein durch das Berliner Westend über das Trainingsgelände von Hertha BSC in Richtung Olympiastadion gerobbt hatte und vor einem überlebensgroßen Porträt des so schmerzlich vermissten Präsidenten vor der Ostkurve zum Stillstand gekommen war, saßen in einem verrauchten Hinterzimmer des Soldiner Ecks im Berliner Bezirk Gesundbrunnen einige Personen zusammen und diskutierten aufgebracht über das, was in der letzten Woche über sie gekommen war und wohin es sie in Zukunft führen würde.
Ihre Positionen standen sich dabei unversöhnlich gegenüber. Denn nach der beeindruckenden Stille und der kollektiven Trauer würden schon bald Kämpfe über die Deutungshoheit ausbrechen.
All das hatte sich unterschwellig bereits in den vergangenen Tagen gezeigt. Nach dem unglaublichen Schock, der alle, wirklich alle ereilt hatte und der in einen kollektiven Schmerz über den Verlust eines so jungen Menschen mündete, waren alte Konflikte zutage getreten.
So mischten sich an diesem Tag, an dem die letzten Schneereste verschwanden und am nahegelegenen Bahnhof Gesundbrunnen die Züge noch einmal in das Land hinausfuhren, um bald in ihren Depots Ruhe zu finden, gereizte Worte über den Sound der Jukebox, in der „Peaceful Easy Feeling“ von den Eagles eine Ehrenrunde nach der anderen drehte.
Hauke Schill hatte Justin Hagenberg-Scholz, dem alten Datenfuchs, die Tür geöffnet und mit ihm waren der alte Boulevard-Star Reiser und natürlich Dietfried Dembowski hineingeschlüpft. Einige Minute später klopfte auch die Chronistin des Ermittler-Lebens, Genevieve Heistek, und bat um Einlass. An einem schweren runden Holztisch saßen sie nun und steckten ihre Köpfe zusammen. Ihre Gedanken waren dabei erst vom schweren Nebel der Trauer und dann von den immer kämpferischer durch die Dunkelheit zuckenden Blitzen des Aufbruchs geprägt.
Kay Bernstein hatte sein Erbe in zahlreichen Sommerinterviews im vergangenen Jahr formuliert, ohne ahnen zu können, dass die Formulierung seiner Vision für den deutschen Fußball eben genau dieses Erbe sein würde. Mit dem Verschwinden seiner Stimme waren diese Worte nun in Stein gemeißelt. Sie waren nun seine Gebote für das Zusammenleben außerhalb des Fußball-Platzes.
Der Berliner Weg war einer, hinter denen sich jene vereinen konnten, die sich nach dem unschuldigen Fußball der frühen 2000er zurücksehnten, die in den Sozialen Medien zuerst schauten, was in der Belaliga passierte und die den technokratischen Ideen der selbsternannten Analysten in ebenen jenen Netzwerken im besten Falle ein Schulterzucken und meistens jedoch aufrichtiges Mitleid spendierten.
„Er war unser Martin Luther King“, sagte Hauke Schill, der sich Ingwer-Tee schlürfend an den Tisch gesetzt hatte. „Bernstein hat dem Fußball aufgezeigt, was er war und was er wieder sein muss.“ Reiser schüttelte angewidert den Kopf. Er nahm noch einen großen Schluck aus seiner Steini-Flasche, tippte nervös mit seinen Fingern auf dem schweren Holz des Tisches. Er setzte an.
“Die Mauer der Mittelmäßigkeit”
„Seine Radikalität war vorgeschoben. Diese Heldenverehrung, diese Verklärung ist mehr als gefährlich. Das, was er Korruption nannte, waren Notwendigkeiten, um in dem System Fußball überhaupt etwas zu bewegen. Es gibt keine Möglichkeit, sich gegen das Kapital zu stellen. Der Fußball braucht dieses Kapital, will er denn in den nächsten Jahren überleben. Er kann sich nicht gegen die Verbände positionieren, denn sie strukturieren ihn und bringen Frieden über die Welt, wie Infantino doch immer sagt“, sagte Reiser. „Der hat doch auch Geschäfte gemacht. Eure Verklärung nützt nichts. Der Berliner Weg war ein Irrweg, er war kein revolutionärer Weg. Er war dazu noch einer, den Hertha mit Crazybuzzer und 777 Partners beschritt. Es ist doch alles Quatsch.“
Dembowski schüttelte sich, Schill nahm einen Schluck Ingwer-Tee und JHS grübelte über seinen Daten. Die sprachen für Reiser. Denn, wenn auch die Zuschauer wieder etwas fühlten, befand sich Hertha BSC spielerisch vielleicht nicht auf einem Irr-, aber mindestens auf einem Holzweg, der zu einer Hängebrücke über eine tiefe Schlucht führte. Dort, so zeigten es die Daten, war das Holz morsch und drohte bei einem Überquerungsversuch unter den behutsamsten Schritten zu zerbröseln. Der Weg über diese Brücke war so gefährlich wie wohl auch unmöglich. Der sportliche Erfolg würde nicht mehr in diesen Teil der Hauptstadt zurückkehren. „Das Westend“, sagte JHS, „wird sich diese Mauer der Mittelmäßigkeit auf Dauer nicht leisten können.“
Schon wieder diese Frage: Was ist Erfolg?
Es waren unversöhnliche Diskussionen, die unsere fünf Freunde an diesem stürmischen Januar-Abend im Hinterzimmer des Soldiner Ecks führten. Doch sie führten immer wieder zum Kern der bernsteinschen Ideen. Denn letztlich berührten diese eben genau diese wichtigste aller Fragen: Wie würde es dem Fußball in den nächsten Jahrzehnten gelingen, einen Mittelweg zu finden? Er musste die Menschen weiter berühren und er durfte dabei auch nicht an Relevanz verlieren. Was diese aber ausmachte, darüber gab es keine Studien, darüber gab es keine Einigkeit. Hing diese wirklich mit dem sportlichen Erfolg zusammen und wie setzte sich sportlicher Erfolg überhaupt zusammen, wenn die aktuellen Verhältnisse für wahrscheinlich 99 Prozent der Vereine einen Titelgewinn auf nationaler und internationaler Ebene ausschloss?
Dembowskis Laune war in den Stunden im Hinterzimmer des Soldiner Ecks zusammengebrochen. Dabei war so vorher aus bekannten Gründen schon nicht existent. Aus tiefer Trauer war große Wut erwachsen. Wie er dort auf seinem Stuhl sitzend, über sein Schulle wachend und nur alle fünfzehn Minuten zur Jukebox eilend verharrte, hatte es ihm sogar seine Tränen verhagelt.
„Ich bin doch nicht Fan eines Vereins, weil er immer gewinnt. Ich bin Fan eines Vereins, weil mich die Menschen, die diesen Verein ausmachen, tief berühren und ich mich in ihnen wiederfinde“, schimpfte Dembowski. „Was da auf dem Platz passiert, wer sich da für einige Jahre in den Farben zeigt, das ist doch alles nur dem Zufall geschuldet. Als Fan befindest du dich die meiste Zeit im freien Fall. Nach jedem Sieg droht die nächste Enttäuschung. Es sind immer Enttäuschungen, die uns zusammenschweißen und es sind diese wenigen Momente der Freudeneruption, die uns süchtig machen und von denen wir immer wieder erzählen. Weil sie so selten sind, brennen sie sich ein. Doch darum geht es nicht. Es geht um das, wie Bernstein es ausdrückte, Kulturgut Fußball. Es ist eines der wenigen Kulturgüter des ewigen Scheiterns. Und das macht es aus.“
JHS fordert neue inverse Außenverteidiger
Reiser stand mittlerweile vor der Jukebox und prügelte auf sie ein. Die Platte sprang und sprang. Und Reiser lachte. „Dembowski! So klingst Du! Seit Jahren. Niemand will Deinen lächerlichen Fußball-Philosophie-Kram hören“, sagte er und sah sich plötzlich einer Schimpftirade der Heistek ausgesetzt. Sie verteidigte den mehrfachen Ermittler des Jahres, der vielleicht ein einfacher Mensch sei, wie sie sagte, der aber Frieden in seinem Herzen trage. „Reiser, Sie müssen noch viel lernen“, rief sie, doch der höhnte nur. „Eine Niederlage ist eine Geschichte, mit dem Scheitern und dem Sturz kann ich aber ein ganzes Jahr bestreiten.“
„Aber das sagt er doch“, mischte sich nun auch Schill ein. „Wir wollen über das Scheitern lesen, weil wir alle immerzu scheitern. Und wir wollen über die Wege des Scheiterns lesen, weil wir darüber erstaunt sind, wie wir scheitern können. Und darum geht es hier doch überhaupt nicht! Es geht um…“
„Genau“, rief Justin Hagenberg-Scholz dazwischen. „Es geht um inverse Außenverteidiger, es geht um das Überfrachten einer Seite und die Zwischenräume, die zu bespielen sind. Es geht um tiefe Läufe und es geht um Steil-Klatsch!“ Dembowski hatte genug. Er packte JHS am Kragen und schleppte ihn zur Tür. Mit einem Tritt beförderte er ihn auf die Straße. Hinter ihm applaudierte Reiser, der sich den „Datenspinner“, wie er ihn kaum liebevoll nannte, nicht länger anhören wollte und sich plötzlich in Dembowskis Kopf wiederfand. Auch das aber war nur von kurzer Dauer. Sie standen sich ansonsten weiter unversöhnlich gegenüber.
“Wir müssen uns erinnern”
Auf welche Seite würde nur der Fußball entweichen und wie würde das Erbe Bernsteins weiterleben? Diese Frage ließ sich an diesem Abend im Soldiner Eck nicht beantworten. Eins aber war klar geworden: Der Tod des Präsidenten hatte alles auf Halt gesetzt und jetzt lauerten alle auf den Wiederbeginn. Es würde in ein wildes Hauen ausarten. Nicht nur bei Hertha, sondern überall. Das zumindest war zu befürchten. Denn niemand hatte Zeit, um wirklich durchzuatmen.
„Was immer auch passieren wird, wir müssen uns an ihn erinnern, Reiser“, sagte Dembowski. „Die Ideen, die Kay Bernstein dem deutschen Fußball hinterlassen hat, sind so überlebensgroß wie sein Porträt am Eingang zur Ostkurve. Es ist an uns, diese weiterzutragen und es ist an uns, dass wir endlich verstehen: Ein Fußball ohne seine Fans ist nichts. Und wir dürfen uns glücklich schätzen, dass den Fans das Spiel so viel bedeutet und sie deswegen so kämpfen. Bernstein hat diesen Kampf in die Führungsetagen des Fußballs getragen.“
„Die Leute“, sagte Reiser und lachte, „wollen über die Deppen lesen, die ihren Fußball zerstören und Millionengehälter dafür abgreifen. Du hast nichts verstanden, Dembowski!“ Schill hatte genug. „Hausverbot im Soldiner Eck“, rief er und schmiss Reiser raus. „Menschen“, sagte er, als sich die Tür hinter Reiser geschlossen hatte. Heistek, Schill und Dembowski waren jetzt wieder in ihrer Trauer vereint. Noch einmal gingen sie den Zeitungsstapel durch. Der hatte sich in der vergangenen Woche angesammelt. Es waren Zeugnisse der tiefen Trauer um den Verlust eines Menschen, eines Freundes und eines Vorkämpfers für die neue Menschlichkeit im Fußball.
Sie allen waren erschüttert, an welchen Ort der Zwietracht es sie innerhalb von sieben Tagen getrieben hatte. „Wir müssen“, sagte Dembowski, „nicht aufhören, von Kay Bernstein zu erzählen und wir müssen seine Ideen weitertragen und wir müssen verstehen, was der Fußball in uns auslösen kann. Das dürfen wir nie vergessen.“
Dembowski Ermittelt trauert um Kay Bernstein. Was jetzt in den kommenden Monaten passieren wird, kann niemand vorhersagen. Viele Seiten werden seine Ideen für sich reklamieren, viele werden behaupten, dass Bernstein es genauso gewollt hätte. Kay Bernstein, das ist klar, war einer, der sich mit seinen wohlformulierten Vorschlägen nicht nur Freunde gemacht hat und der für einen neuen, anderen Fußball kämpfen wollte. Der sich nicht mit den Machtstrukturen im Fußball abfinden wollte und damit die Herzen so vieler Menschen erreichte. Ruhe in Frieden, Kay.