Dietfried, sie haben den Waschbären getötet
Aufruhr auf der Kranichfarm. Die Hinrichtung eines Waschbären sorgt für Tränen, der neue BVB-Sponsor für Verwunderung. Dabei steht das große Staffel-Finale an. Dembowski kommentiert gnadenlos.
Noch auf der Veranda brach Dörte erst zusammen und dann in Tränen aus. Die Hinrichtung des Waschbären Paul in der niedersächsischen Stadt Hildesheim war ihr, die sie alle Tiere liebte, mehr als nur nahe gegangen. Tatsächlich stimmten die Berichte aus dem ehemaligen Westen der Republik so kurz vor der EM nicht nur Dörte nachdenklich, auch Dietfried Dembowski zeigte sich zutiefst geschockt.
Wie zu lesen war, hatte die Stadt den armen Waschbären Paul „tierschutzgerecht“ töten lassen, weil er eine konstante Bedrohung für die im näheren Umkreis eventuell angesiedelte Gelbbauchunke dargestellt hatte. Ein Skandal, der ein besorgniserregendes Schlaglicht auf die Waschbärenrechte in Mitteleuropa warf und der eine ganze Nation bis an den äußersten Rand, die Kranichfarm im Oderbruch, erschütterte.
Die Auswirkungen auf die Europameisterschaft waren momentan nicht absehbar. Doch sie würden gravierend sein, das wussten Dörte und Dietfried. Es war ein Skandal, der ein ganzes Turnier scheitern lassen konnte. Dembowskis Empörung kannte keine Grenzen.
Dabei hatte Dembowski wirklich keine Zeit für noch einen Skandal. Diese Rheinmetall-Geschichte hatte ihm bereits zugesetzt und er damit ja Stunden verbracht. Das Internet empörte sich, Köster war direkt bei Hitlers Vernichtungskrieg gelandet und schwatzgelb.de krakeelte: „Das ist Sache der Politik.“
Der Ermittler schüttelte den Kopf. Politik hat mit Fußball nur so lange etwas zu tun, wie es den Fans passt, dachte er und wie ungünstig dieser Lärm der Zeiten doch gerade jetzt war. Wieso Watzke gerade jetzt den Lautsprecher rausgeholt hatte und einen Diskurs einforderte, auf den sich wirklich niemand einlassen wollte, erschien mindestens rätselhaft.
Er blätterte weiter. Aber auch da war nur Ärger. Hummels vernichtete Terzic. In England drehte es sich nur noch um Mason Greenwood und dessen Zukunft im Westfalenstadion. Wembley stand vor der Tür. Was war da nur los? Er wollte Ermittlungen in Richtung Henkelpott anstellen, doch er musste sich sogar in seinen Tagträumen mit der harten Realität beschäftigen.
Fußball sollte, wie eben auch die Tierwelt, ein Safe Space in jedem Leben sein. So wie sie es hier auf der Kranichfarm vorlebten. Dembo blickte auf Dörte, die sich zu Huguito, Dieguito und Luisito gesellt hatte und mit den Gürteltieren durch das Gehege kugelte, dann stieg er hinab zu Koi und gründelte stundenlang. Als er den See verließ, war er wie befreit und sein Kopf war klar.
Dembowski setzte sich an einen Text, der, nachdem er mehrere Schleifen durchlaufen hatte, so klang:
Noch ein letztes Mal Wembley. Dazu können sie sich noch aufraffen. Dann werden sie auseinanderfliegen. Die Klammern halten kaum noch. Der BVB schleppt sich in das große Finale der Champions League. Überall zischt und knallt es, noch jedoch ist nichts explodiert. Das wird auch bis zum Abpfiff am Samstag so bleiben.
Einst setzte der BVB auf die Jugend und träumten von der Zukunft, die niemals eintraf. Jetzt setzen sie auf Erfahrung und leben in der Gegenwart. Die wohl zukunftsloseste Mannschaft von Borussia Dortmund seit langer Zeit kämpft urplötzlich um den Henkelpott, und keiner weiß warum. Dabei ist die Sache ganz einfach. Die Durchschnittskicker in den schwarzgelben Trikots werden nie wieder in diese Position kommen. Sie sind schlichtweg zu alt und wohl auch zu schlecht. Sie waren in dieser Spielzeit hochgeflogen und hatten so tatsächlich die undenkbare Klammer um die Jahre 2013 bis 2024 legen konnte. Stillstand von Wembley bis Wembley.
Die wohl erfolgreichste Dekade der Vereinsgeschichte hatte den Klub als Dauergast in die Champions League gespült und doch alle verzweifeln lassen. Denn das Geschäftsmodell Zukunft, das Geschäftsmodell Haaland, Bellingham, Dembélé also, hatte zusammen mit dem stechenden Blick zurück auf die wenigen Jahre unter Jürgen Klopp die Gegenwart in einen ewigen Stillstand verwandelt. Alles, was in Dortmund in den vergangenen Jahre passierte, fand entweder in einer fernen, niemals einsetzenden Zukunft oder eine alles lähmenden Vergangenheit statt.
Erst die radikale, eventuell aus der Not geborene Abkehr von dieser Strategie hatte den BVB nun ins Finale geführt. Allenthalben setzten in Europa auch die großen Klubs auf junge, aufstrebende Spieler. Die ständige steigende Belastung bei jetzt fünf möglichen Auswechslungen tat ihr Übriges. Die Zwischenstation Dortmund ist nicht mehr zwangsläufig ein Muss. Auch bei Real Madrid gibt es Spielzeit.
Diese letzte Dekade würde schon bald als langatmiger letzter Teil der „Alle am Borsigplatz geboren“-Trilogie in die Geschichte eingehen. Alles kam zusammen. Wembley war das vorherbestimmte Finale für eine der größten Serien des vergangenen Jahrhunderts. Der Pilot lag lange zurück, er war als „Doktor Gott“-Spin-Off ohnehin umstritten, konnte aber mit der Eröffnungsszene im Vorzimmer der Pathologie punkten.
Nach drei wilden Jahren (van Marwijk, Röber, Doll und den verzweifelten Warnungen der Fanabteilung an die Stadt, die sich hinter dem Klub vereinen müsse) sowie Watzkes fast arroganten Versprechungen von kommenden Großtaten, war der Beginn der zweiten Staffel mitten hinein in das Finale ersten unglaublich. Diese hatte sich ausgerechnet im Vorlauf des April-Finales im DFB-Pokal angekündigt. Klopp würde den Verein übernehmen. Da konnte sich Thomas Doll Tage später noch so oft den Arsch ablachen.
Der ehemalige Hamburger verschwand mit seinem Porsche aus der Tiefgarage. Niemand weinte ihm eine Träne nach. Die Titeljahre begannen mit einem fast erstunkenen 3:3 im Derby. Von da an gab es kaum noch ein Halten.
Watzke hatte mehr als Recht behalten, die Internet-Zeitenwende half massiv. Der Name Borussia Dortmund verbreitete sich auf der ganzen Welt. Redet man heute im Ausland von Dortmund, redet man ausschließlich von der Borussia. Es gibt wohl kaum eine andere Stadt weltweit, die so sehr nach Fußball riecht. Liverpool hat noch die Beatles, Manchester hat Madchester und danach kommt nichts. Dortmund ist Borussia und sonst nichts.
Serienfinale in Wembley jetzt. Die ganze Welt schaut zu. Das war nicht immer so in den letzten Jahren. Sie sind wieder da und letztmals sind alle versammelt. Manche kommen gerade und andere gehen.
Lars Ricken, der in der Tragödie „Doktor Gott“ 1997 den maximalen Erfolg brachte, kommt. Er ist zurück.
Hans-Joachim Watzke, der Retter, steht vor dem Ende. Der scheidende CEO hat mit seinem Deal mit Rheinmetall, mit seinem kaum dezenten Hinweis auf die Zeitenwende, spektakulär unnötige Unruhe in die Vorbereitung gebracht.
Neben ihm wird wieder Matthias Sammer sitzen, der gemeinsam mit Ricken schon immer da ist, aber 2013 noch auf der anderen Seite stand.
Der von Bundestrainer Julian Nagelsmann verstoßene Mats Hummels hat gegen seinen derzeitigen Trainer Edin Terzić derart nachgetreten, dass eine weitere Zusammenarbeit kaum noch vorstellbar ist.
Marco Reus wird den Verein verlassen. Sein Leben in der Profimannschaft reicht von Wembley zu Wembley. Er wird nicht nachtreten.
Den üblichen Transfermedien ist dann zu entnehmen, dass mit Sébastien Haller, Youssoufa Moukoko, Karim Adeyemi und sogar Niclas Füllkrug die nahezu gesamte Angriffsreihe den Klub verlassen könnte.
Sportdirektor Sebastian Kehl könnte an den Mittellandkanal wechseln.
Kaderplaner Sven Mislintat, das gefallene Diamentenauge, hat zurück an den Borsigplatz gefunden. Er hatte sich vor langer Zeit mit Thomas Tuchel überworfen.
Wembley ist das letzte Zusammenkommen der wohl seltsamsten Dortmunder Mannschaft der letzten 20 Jahre. Für einen kurzen Moment sind auch sie alle am Borsigplatz geboren. Ein letztes Finale und dann ist es endgültig vorbei. Ein Team zerfällt. Ein Verein erfindet sich neu.
Mit dieser maximal auf die Gegenwart getrimmten Mannschaft will der Ballspielverein Borussia aus Dortmund den wohl größten Favoriten jemals, Real Madrid, eine gigantische Niederlage zufügen. Nur ein Jahr nach dem 2:2 gegen Mainz, dem tiefsten sportlichen Tiefpunkt der letzten 15 Jahre, könnten sie die wohl größte Erzählung der weit über 100-jährigen Vereinsgeschichte mit dem größten Triumph abschließen und sich danach in alle Winde zerstreuen.
Vorher aber will Marco Reus am Ende von „Alle am Borsigplatz geboren“ den Henkelpott in die Luft stemmen, sich ein letztes Mal mit den Fans vereinen. Er hatte es so lange verpasst. Dabei war das seine Bestimmung. Er war einer von ihnen. Bis es soweit ist aber, wird es überall zischen und knallen. Das größte Finale der Vereinsgeschichte. Danach wird nichts mehr sein, wie es über zwei Jahrzehnte war.
Dembowski stand auf, ging zum Plattenregal und schnappte sich ein altes Album von Matt Pond PA. „Time was held, well worth the holding, waste it when you try to save, save it and it ends up wasted.” So war es wohl. Am Ende würden sie erleuchtet sein. Er blickte auf Dörte und dann auf die Kraniche. Alles würde gut werden.
Wie fliegt denn der Kranich am Wochenende nach England?