Dietfried Dembowski hat das Watzke-Syndrom
Der BVB verliert gegen Hoffenheim. Da kommen natürlich direkt Erinnerungen an die große Niederlage von 2013 hoch. Darauf folgte ein bleiernes Jahrzehnt. Simon Heske hat eine Vermutung.
In den auf den Besuch von Simon Heske folgenden Tagen fand Dietfried Dembowski keine Ruhe. Die Namen Mittal, Gaydamak und Vekselberg ließen ihm keine Ruhe. Wen hatte JHS da ausgegraben und wäre es nicht seine Aufgabe gewesen, eben jenen Simon Heske auszugraben. Nur worum ging es. Es musste sich um einen Fall in den 2000er-Jahren handeln. Das hatte er sich aus Gazprom und Schalke erschließen können. Beide wollte seit einiger Zeit niemand mehr anfassen.
Da am Sonntag nur der Pflichtsieg gegen die TSG Hoffenheim anstand, war das Soldiner Eck spärlich gefüllt, als die Mannschaften in das Westfalenstadion einliefen. Die Zeit davor hatte Dembowski genutzt, um bei JHS vorzufühlen. Doch der ließ nichts raus. Berenice Hagenberg-Scholz servierte ihnen “Grillierte Süßkartoffeln” mit einem herrlichen “Quinoa-Avocado-Salat” und einem duftenden Mate-Tee und erzählte von ihrem Job an der Chausseestraße und auch ihrer Zeit in Caracas. Auch sie kannte Simon, wollte jedoch keine großen Worte über ihn verlieren.
JHS sitzt auf dem Zauberberg
„Wir haben ihn mal zurückgeholt“, sagte sie nur und schritt an die großen, die Ulbricht-Kurve überblickenden Fenstern. Sie standen hier direkt auf dem Zauberberg, der nach den finanziellen Schwierigkeiten der Hertha in den 1970er-Jahren diesem Betonblock gewichen war. Auf der anderen Seite der Kurve, südlich des Schwedter Stegs waren die Masten des alten Jahns zu sehen und ein Stück weiter westlich das den Grenzstreifen einnehmende Neubaugebiet sowie die Ausläufer des Mauerparks, von dem an diesem Spätwintertag erste Grillrauchschwaden aufstiegen, nur um sich in der klaren Luft schon bald aufzulösen.
Die Millionenbrücke war mal wieder abgesperrt. Sie drehten ein Film über die Bösebrücke, die in ihrem Rücken den Soldiner Kiez begrenzte und über die Dembowski so oft gestolpert war, wenn er nach seinen Ausflügen ins Eck noch einmal die Stadt sehen wollte. Bald würden hier wieder die Touristenschwärme die Kirschblüte auf ihren Kameras für immer verewigen und dann vergessen. Dembowski liebte diese Tage des Erwachens.
Großkreutz suhlt sich in seiner dunkelsten Stunde
Das Ende des Winters war nun absehbar, das Ende der BVB-Krise jedoch nicht. Emre Can, Nico Schlotterbeck und Niclas Füllkrug führten die aktuelle Stümper-Truppe des Ballspielvereins dann auch vor den wenigen Zuschauern im Soldiner Eck zu einer niemals gefährdeten 2:3-Niederlage gegen die Mannschaft aus dem Kraichgau, die Borussia Dortmund schon vor über einem Jahrzehnt aus Dummheit in der Bundesliga belassen und der obersten Spielklasse in Deutschland damit mit Sicherheit keinen Gefallen getan hatte.
Ausgerechnet Kevin Großkreutz hatte vor dem Spiel daran erinnert, als er auf Instagram in einem Anflug von Nostalgie seine Minuten als schlechtester Torhüter der Ligageschichte teilte. In kaum zehn Minuten hatte er damals im Mai 2013 zwei Treffer kassierte, weil Roman Weidenfeller die Rote Karte gesehen hatte und nur der spätere Weltmeister sich überhaupt dafür geeignet sah, den Kasten der Dortmunder nicht sauber zu halten.
Diesmal hätten sie Hoffenheim ohnehin nicht in die Zweite Bundesliga schießen können, aber immerhin ein Stück weit in eine Krise, die sich zu einem nicht ganz so tragischen Unglück hätte entwickeln können. Doch der gnadenlos überbezahlte Kader der Borussia war an diesem Sonntag mal wieder überfordert damit, für länger als 22 Minuten als eine Einheit zu funktionieren.
Die Fans verlassen das Stadion
Über die Jahre und Trainer war der BVB zu einem Gebilde geworden, das sich, wie Reiser es nach der Niederlage treffend formulierte, selbst auffraß. Trainer und Spieler waren gekommen und gegangen, aus Michael Zorc war Sebastian Kehl und aus der dereinst dauereuphorisierten Südtribüne ein von der Tristesse des Vereins und der Selbstüberschätzung aller Verantwortlichen genervter Schweigeort geworden.
Bei den Pfiffen fühlten sie noch etwas, doch von den „Scheiß Millionäre“-Gesängen hielt sie nur der Fakt ab, dass alle die in diesen 2020er-Jahren mit Fußball zu tun hatten, ohnehin Millionäre waren und das große Ganze im Fußball noch schlimmer war als der unansehnliche Heldenfußball ohne Helden, der die fehlende Mentalität der Tage der guten Fußballer in Dortmund längst abgelöst hatte.
Niemand konnte sich an all die Namen erinnern, die Borussia Dortmund seit der Niederlage gegen Hoffenheim 2013 verbrannt hatte. Es waren zu viele und zu beliebige. Weil es kaum Titel gegeben hatte, waren auch die Spuren in der Vereinsgeschichte überschaubar. Es war ein bleiernes Jahrzehnt ohne Aussicht auf den nächsten Stern auf dem Dortmunder Walk of Fame, der in der ehemaligen Bierhauptstadt einst zum 100. Geburtstag im Jahr 2009 angelegt worden war und dessen Spuren nahezu überall daran erinnern, worum es in der Stadt geht.
Watzke überall
Hans-Joachim Watzke, da war sich Dembowski sicher, hatte sich diesen Stern verdient. Doch der Geschäftsführer des BVB hatte sich nach dem Rückzug der großen Bayern-Führung um Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge und des DFL-Geschäftsführers Christian Seifert in immer mehr Funktionärs-Ämter gedrängt und war, mit Sicherheit ohne es zu wollen, zu einem Symbol für die größere Krise des deutschen Fußballs geworden.
Alles, was Watzke dieser Tage anfasste, zerbrach innerhalb kürzester Zeit. In seiner letzten Volte hatte er sich zum zweiten Mal beim Investorendeal der DFL überschätzt und ihn dann nach dem wochenlangen Widerstand der Fans abgeblasen. Nun schlug ihm der Wind eiskalt um die Ohren. Aus Hannover beschimpfte ihn der Bösewicht Martin Kind und mit den protestierenden Fans und Mitgliedern der Vereine der DFL legte er sich vollkommen ohne Not an.
Die schweigende Mehrheit, behauptete er, hätte sich nur nicht getraut, den meuternden Fans zu widersetzen und den Investorendeal von ihren teuren Sitzplätzen aus abzunicken. Nicht nur Dembowski stellte sich die Frage, wo Watzke in der Zeit der Proteste gesessen hatte und warum er es sich auf seinen letzten Metern im Fußball so schwer machte?
There will be blood
„Wie soll der beim BVB überhaupt noch Entscheidungen treffen, wenn er überall mitmischt?“, fragte dann ausgerechnet JHS, der sich sonst wenig für diese trivialen Fragen interessierte. „Es wird Blut regnen“, formulierte es Reiser, dessen Telefon nicht mehr stillstehen wollte. Der interessierte sich jedoch nicht für Watzkes Versagen, sondern vielmehr für den wohl bald anstehenden Trainerwechsel. Wer würde auf Edin Terzić, dessen kurioses Interview zur Sancho-Verpflichtung, nun sogar im Kraichgau dazu genutzt wurde, den BVB zu verhöhnen.
Während Reiser sein gesamtes Telefonbuch abtelefonierte, um endlich mal wieder die Nummer 1 zu sein und sich nicht von den Transferjournalisten abkochen zu lassen, sorgte sich Dietfried Dembowski um die Zukunft der Borussia.
Dass Watzke gehen, dass Terzić nicht mehr lange machen würde, all das war ja nicht nur vorhersehbar. Es stand fest. Doch der Verein hatte seine innere Mitte verloren und lief jetzt Gefahr, auch eine komplette Fangeneration zu verpassen. In den 1990er hatte der BVB seine Erfolge auch zur Osterweiterung der Fans nutzen können. Das hatte ihn mit all seinen Erfolgen zu einem Verein, der in den 200ern zu groß war, um zu scheitern.
Großes Schweigen im Soldiner Eck
Als Watzke den Verein dann von der Intensivstation zurück in die europäische Spitze geführt hatte, waren die Sozialen Medien und der global nun intensiv vernetze Fußball dafür verantwortlich, dass aus Borussia Dortmund eine weltweite Marke wurde, die sich über ihren Fußball und über ihr Stadion definierte. Der Sehnsuchtsort Westfalenstadion und das Markenversprechen lockten dann die Jungstars in Richtung Dortmund.
Die hatten den Namen Borussia Dortmund dann noch einmal neu etablieren können, doch mit dem Abgang von Jude Bellingham im vergangenen Sommer war auch diese Zeit beendet. Die verbliebenen internationalen Anhänger verloren ohnehin langsam die Geduld. Wieso sollten sie sich für einen Verein in einem fernen Land interessieren, in dem keine Amerikaner, keine kommenden Weltstars mehr spielten und dessen aktuelle Mannschaft so gesichtslos war, dass sie meist nur noch Marco Reus kannte.
Doch auch der würde bald Geschichte sein und hatte lokal auch selten so viel Gewicht. International war er eine große Nummer, auf den Reisen ins Ausland dann aber mäßig daran interessiert, sich auch so zu geben. So saßen sie alle beisammen, schwiegen und hingen ihren Gedanken nach.
Die fatale Heldenreise
Als es bereits dämmerte und ein neuer Morgen über das Soldiner Eck über sie hereinbrach, sagte Dembowski: „Es ist doch komisch. Irgendwann ist der BVB zu dieser Heldenreise aufgebrochen. Auf ihr sollte der Spagat zwischen Borsigplatz und Shanghai gelingen. Und es ist doch: In dem Moment, in dem sie genau das formuliert hatten, waren sie zum Scheitern verurteilt. Denn seine Kraft hat der Verein immer nur aus dem Lokalen gezogen. Die großen Geschichten hat immer das Westfalenstadion erzählt. Du kannst diesen Verein nicht ohne das Stadion denken und in dem Moment, in dem du das Stadion verlierst, verlierst du alles. Noch haben die Dortmunder genug Fans, die sich Woche für Woche dahin begeben und das machen sie seit Jahren, immer mit der Hoffnung, dass nach dem nächsten Umbruch alles besser wird. Doch jetzt, vor dem gewaltigsten aller Umbrüche, sind sie kaum noch in der Lage, sich für den nächsten Umbruch zu begeistern. Dabei muss genau das jetzt passieren. Ich weiß nicht, wie das ….“
In diesem Moment unterbrach ihn Reiser, der sich mit einem Weinglas auf die Theke gesetzt hatte und den Worten von Dembowski nur so halb zugehört hatte. Ihm waren die großen Linien egal. Er mochte es, wenn es knallte und wenn etwas passierte. „Hauke, mach mich hoch …“, rief er und Schill zog das Mikrofon auf 11. Seine Worte waren nun im gesamten Soldiner Kiez zu hören. „1:0 für Köln!“ Dann fiel er von der Theke. Simon Heske öffnete die Tür und sagte: „Habt ihr auch alles das Watzke-Syndrom?“