Die Tränen der kleinen Erbse
Super Sunday im Soldiner Eck! Da ist für alle was dabei und doch gibt es an diesem Tag nur ein Thema: Chicharito ist wieder da!
Hauke Schill balancierte schon wieder sein Tablett. Getränke hier, Getränke da. Wieso hatte er damit eigentlich wieder angefangen? Im Süden hatten andere für ihn ihre Tabletts balanciert und er konnte sich an den herrlichsten Speisen laben. Vorbei! Er musste unbedingt zurückkommen. Der Wirt bereute es jetzt schon.
Immerhin erstrahlte das Soldiner Eck an diesem Sonntag im herrlichsten Wintersonnenschein. Draußen an den Tischen kauerten einige Gäste, die sich in die Lamafelle hüllten, die Dembowski einst von seiner Farm angeschleppt hatte. Sie hielten immerhin warm. Seitdem das Bezirksamt Mitte ihm die Heizstrahler verboten hatte, loderte in Richtung Friedhof immer ein wärmendes Licht in der Feuerschale.
All das interessierte die, die sich in Schills Hinterzimmer eingefunden hatten, herzlich wenig. Es war Super Sunday. Der HSV dilettierte sich in einem, wie man sagt, wilden Spiel erneut aus den Aufstiegsrängen, Holstein Kiel hatte die Form in der Winterpause auf Reisen geschickt. Die Dominanz des Nordens bröckelte, die Schalker kassierten durch den Braunschweiger Sieg ihren dritten Niederschlag an nur einem Wochenende.
JHS und die Katastrophe Schalke 04
„Technischer Knock-out in der 19. Runde“, blitzanalysierte Dembowski gewohnt souverän und auch Justin Hagenberg-Scholz hatte keine Argumente mehr. Die Königsblauen waren gegen Ende der 2010er die erste Mannschaft, die den Datenfuchs hinters Licht geführt hatte. Alles hatte für eine mindestens zehnjährige Blütezeit in Gelsenkirchen gesprochen, doch auch die Daten irrten einmal. „Passiert“, klopfte ihm der Ermittler gönnerhaft auf die Schulter. „Die Blauen sind wirklich die Ausnahme von der Regel. Es ist so herrlich.“
Über so wenig Neutralität verwundert, zog sich JHS für die kommenden Stunden hinter seine Tablets zurück. In Köpenick vergoss ein Trainer ein paar Tränen. Nach dem 1:0 gegen den SV Darmstadt 98 war Union Berlin zwar der Klassenerhalt kaum noch zu nehmen, doch Nenad Bjelica würde den kaum noch auf der Bank erleben. An diesem Sonntag sah er noch einmal, was hätte sein können.
Reiser rechtfertigt Bjelica-Rauswurf
Der Schlag gegen Leroy Sané aber hatte ihn „nicht mehr tragbar“ gemacht, wie die Presse ohne weitere Bedenkzeit verkündet hatte. Auch Manager Oliver Ruhnert wollte sich längst nicht mehr festlegen und so waren seine Tränen womöglich nicht nur dem Sieg und dem damit so gut wie errungenen Klassenerhalt geschuldet. „Der Fußball“, sagte der Ermittler, „schreibt die seltsamsten Geschichten. In ein paar Jahren wird der Name Bjelica für Quizfragen herhalten müssen. Und wenn jemand auf die Lösung kommt, werden sie sich alle erinnern und dann wieder vergessen. Für Nenad aber ist es vorbei.“
Reiser sah Dembowski an und schüttelte seinen Kopf. „Nicht mehr resozialisierbar nennt man das bei uns“, sagte er. „Ein Trainer muss ein Vorbild sein und Bjelica ist ein ganz schlechtes. Wir hatten jedes Recht, ihn zu vernichten. Durch sein Verhalten hat er diese Reaktion provoziert. Es ist nicht entschuldbar. Solche Verbrecher wollen wir in unserer Bundesliga nicht sehen.“
BVB einfach unschlagbar
JHS schaute auf. Er hatte nicht zugehört und es war ihm auch egal, wer Trainer in Köpenick war. Die Geschichte der Eisernen war längst auserzählt. Es ging nur noch darum, in den kommenden Jahren mit Bochum, Heidenheim und vielleicht St. Pauli gegen den Abstieg zu spielen, um dann letztlich doch runterzugehen. „Union ist mir egal“, sagte JHS: „Und Bjelica auch.“ Es war Worten von ungewohnter Präzision, die der Datenfuchs hier abfeuerte.
„Berlin“, sagte Dembowski, „bleibt die Stadt der Tränen. Das war immer so und es wird immer so bleiben. Das Glück ist hier flüchtig, es zerrinnt in unseren Fingern, sobald wir es berühren. Nichts hat hier Bestand. Alles flieht, alles zieht. Am Ende ist alles wieder auf Start, aber wir hatten eine gute Zeit. Darum geht es doch, solange wir noch da sind.“
Der Super Sunday nahm seinen Lauf. Borussia Dortmund spielte, wie Borussia Dortmund in dieser Saison so spielt. Nicht wirklich sehenswert, aber doch immer wieder erfolgreich. Nur drei Niederlagen hatte der BVB in den ersten 19 Bundesligaspielen jetzt kassiert, aber die Unentschieden gegen Bochum, Heidenheim, Frankfurt, Leverkusen, Augsburg und Mainz färbten das Tabellenbild novembergrau. Ende Januar war wieder etwas Licht zu sehen. Das beschwerliche 3:1 durch den Dreierpack des deutschen Messis, Niclas Füllkrug, über den VfL Bochum brachte sie zurück in Richtung Champions League.
Unterschiedsspieler für ein paar Monate
Es war eine seltsame, seltsame Mannschaft, die Sportdirektor Sebastian Kehl dort hingestellt hatte. Sie war in maximal drei, vier Spielen in der Saison in der Lage so zu spielen, dass nicht alle über sie herfielen. Darmstadt, Köln und Bochum hatten die Dortmunder immer wieder früh unter Stress gesetzt, waren jedoch nie entscheidend ins Spiel gekommen. Weil immer jemand noch eine Grätsche auspackte und die Elfmeter auf der anderen Seiten gepfiffen wurden.
Obwohl sie jetzt ja Malocher und Mentalitätsgiganten waren, wollte sich niemand mit ihnen identifizieren. Dafür war das Team zu bieder, zu durchschnittlich und zu teuer. Immerhin hatten die Wintertransfers Jadon Sancho und Ian Maatsen das Spiel des BVB auf ein etwas ansehnlicheres Level heben können. Sie waren Unterschiedsspieler und da sich jedoch aber auch die verleihenden Vereine dessen bewusst waren, würden sie nicht lange Spieler der Borussia bleiben.
Umbruch folgte auf Umbruch folgte auf Umbruch und so würde es auf immer weitergehen, bis der Verein seine Identitätssuche abgeschlossen hatte und endlich im modernen Fußball angekommen war. Es lief, auch das war ersichtlich, auf den großen Showdown 2025 hin. Dann würde die Zukunft des Vereins neu verhandelt und niemand wusste, wie diese aussehen konnte. Der Lokalklub im Kostüm eines europäischen Topvereins hatte weiter schwer zu kämpfen.
Wir schalten nach Mexiko
Als Niclas Füllkrug sein letztes Interview gegeben, als Edin Terzić den Pressekonferenzraum in der Südostecke des Stadions verlassen hatte und auch das Soldiner Eck an diesem Super Sunday endlich zur Ruhe gekommen war, schnappte sich Hauke Schill die Fernbedingung und schaltete um.
„Wisst ihr“, fragte er, „was Chicharito heißt?“
„Die kleine Erbse“, antworteten sie im Chor und starrten gebannt auf die Heimkehr von Javier Hernandez. Der hatte leuchtende Augen, als er zum ersten Mal seit 14 Jahren wieder im Trikot von Chivas zu sehen war. Bis zu seinem Comeback würde der ehemalige Top-Joker von Manchester United und Running Gag der Bundesliga noch einige Zeit brauchen. Mit einem Kreuzbandriss fällt er, der zuletzt in der MLS bei Los Angeles Galaxy unter Vertrag stehende 35-Jährige noch eine Weile aus.
Aber er ist wieder zu Hause, bei dem Klub, bei dem bereits sein Großvater Tomás Balcázar unter Vertrag stand. Er war einer der größten Chivas-Spieler aller Zeiten und schrieb gemeinsam mit seinem Enkel mexikanische Fußballgeschichte. Beide trafen bei einer Weltmeisterschaft. Balcázar im Jahr 1954 und Chicharito 2010. Nur Chicaro, Balcázars Schwiegersohn und Chicharitos Vater, war das nicht vergönnt. Er blieb bei der Heim-WM 1986 ohne Einsatz.
„Fast alle meine Erinnerungen aus meiner Kindheit handeln vom Fußballstadion, entweder schaute ich meinem Vater zu oder war mit meiner ganzen Familie dort“, erzählte Chicarito einst. "Ich habe immer das T-Shirt meines Vaters getragen – Fußball und alles, was damit zu tun hat, hat schon immer mein Leben bestimmt." Und so schauten sie auch im Soldiner Eck ergriffen auf diesen Moment der Fußballgeschichte. Sie schämten sich ihrer Tränen nicht. Die kleine Erbse war endlich angekommen. Wer konnte das schon von sich behaupten?