Die letzte Europameisterschaft aller Zeiten
Noch 98 Tage bis zum Auftakt der letzten Europameisterschaft aller Zeiten. Sie soll den Fußball im Herzen Europas vereinen. Doch das ist aus dem Takt geraten. Wie alles. Ein Endzeitszenario.
Als sich im Oktober 2021 die deutsche Bürgermeisterprominenz gemeinsam mit UEFA-Präsident Aleksander Čeferin und Turnierdirektor Philipp Lahm 981 Tage vor dem Beginn der Fußball-Europameisterschaft im Berliner Olympiastadion versammelt, um das Logo des Turniers im Sommer 2024 zu bewundern, wird im Berliner Westend von der letzten Europameisterschaft aller Zeiten erzählt.
Das erste klassische Fußball-Turnier für europäische Länder seit der EM 2016 in Frankreich soll ein Zeichen setzen mitten im Herzen Europas, heißt es da. Nicht nur in Deutschland selbst wird nach den im Doppelpack an Russland und Katar verkauften Welt-Turniere 2018 und 2022 sowie der über ganz Europa verteilten EM 2020, die unter Pandemiebedingungen im Jahr 2021 ausgetragen wurde, auf ein neues Sommermärchen gehofft. So wie sich Deutschland bei der WM 2006 selbst überrascht, so soll sich Europa noch einmal überraschen.
Bevor alles den Bach runtergeht. Das Drohszenario damals: eine WM alle zwei Jahre. Das Verschwinden der Europameisterschaft. Das gibt es nicht mehr. Doch besser wurde es nicht. Denn alles hat sich seither geändert. Spätesten mit dem russischen Angriff auf die Ukraine, die auch die mögliche Teilnehmerzahl am Turnier in Deutschland schnell von ursprünglich 55 Kandidaten auf 53 reduzierte.
Pandemiejahre nur noch Klumpatsch im Kopf
Das Beste, was sich über die knapp 900 Tage seit der Vorstellung des Logos sagen lässt, ist: Die Pandemie hat sich geschlichen. Mittlerweile kann niemand mehr sagen, wo er war, als sie kam und wann in den Corona-Jahren und den unzähligen Lockdowns etwas passiert ist. Die Jahre verdichten sich zu einem Klumpatsch regendurchtränkter Zeitungen, die niemand mehr lesen kann. Das hat sich verändert. Die aktuellen Geschehnisse werden auch in den nächsten Jahrzehnten auf den Tag genau datiert werden können. Die atemlose Aufregung der beginnenden 20er-Jahre ist nicht nur geblieben, sie wurde sogar noch beschleunigt.
Die multiplen Krisenherde der Welt vereinen sich zu einem neuartigen Bedrohungsszenario, das die bisherigen Lebenswege infrage stellt. Die Realitäten haben sich verschoben. Die existenzielle Krise hat so viele Ebenen, ist so kleinteilig und so detailliert, dass einem der Kopf bei dem Gedanken daran wegzufliegen droht. Diese Kopflosigkeit ist die Gefahr für jeden Einzelnen.
Der absurde Konflikt in Hamburg
Im Fußball schwillt der Konflikt zwischen der Polizei und den Fans seit Monaten. Er treibt dabei besonders in Hamburg skurrile Blüten. Ausgehend von einer Bahnhofsschlägerei zwischen HSV- und BVB-Anhängern in Mannheim im Herbst 2023 hat sich dort eine Lage entsponnen, die Außenstehenden als mindestens absurd erscheinen muss. Nach einer aufgrund der Bahnhofsschlägerei ausgelösten Razzia der Polizei in einem Zug mit 855 HSV-Anhängern, die sich auf dem Rückweg von einem Spiel in Rostock befanden und dann am Bahnhof Hamburg-Bergedorf von den Einsatzkräften stundenlang zusammengepfercht wurden, dreht sich die Eskalationsspirale immer weiter.
Auf eine "Ganz Hamburg hasst die Polizei"-Choreo der HSV-Fans folgte ein Zerwürfnis zwischen den Anhängern und dem Klub, eine neuerliche Razzia der Polizei, diesmal im Volksparkstadion, ein verbranntes Polizei-Oberhemd in der Kurve, Ermittlungen des LKAs und die Aufkündigung der HSV-Mitgliedschaft des Landesvorsitzenden der Hamburger Gewerkschaft GdP, Horst Niens. Der war nach einem Spiel des HSV auf einen Fan getroffen, der ihm gesagt habe, die Polizei zu hassen. Zu viel für den Gewerkschaftsboss. Der mikroskopische Konflikt in der Hansestadt ist dabei nur ein Beispiel von vielen.
Der Fall Dramé
Dass die Verhältnismäßigkeiten verrutscht sind, lässt sich nicht eben nicht nur an dieser fast schon amüsanten Episode ablesen. Seit Beginn der Saison 2023/2024 werden die Fußballstadien des Landes offenkundig von der Polizei als Testfeld für die anstehende EM benutzt. Im Wochentakt ist von überharten Einsätzen zu lesen, im Wochentakt kommt es zum Einsatz von Pfefferspray. Das ist nach dem Genfer Protokoll der Bundeswehr im Auslandseinsatz "gegenüber Angehörigen gegnerischer Streitkräfte" zwar verboten ist, erfreut sich im Inland jedoch größter Beliebtheit.
Der maßlose Einsatz des Kampfmittels lässt sich dabei nicht nur in den Stadien beobachten, sondern auch in anderen Bereichen. In Dortmund könnte Pfefferspray im Sommer 2022 der Auslöser für den Tod eines 16-jährigen Geflüchteten aus dem Senegal gewesen sein. Der hatte auf dem Außengelände einer Jugendhilfeeinrichtung in der als problematisch geltenden Nordstadt ein Messer gegen sich gerichtet und war beim daraus resultierenden innerhalb kürzester Zeit von fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole eines Polizisten zu Tode gekommen. In den Sekunden vor seinem Tod sah er sich zudem mit einem Pfefferspray-Einsatz und zwei Schüssen aus einem Taser konfrontiert.
Fünf Einsatzkräften müssen sich derzeit an dem Dortmunder Landgericht dafür verantworten. Nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands standen fünf Polizisten in einem derartigen Prozess vor Gericht. Ein Urteil dort wird nicht vor dem September erwartet. Die Schüsse am 8. August 2022 fielen in eine Zeit, in der das von AfD-Politikerin Alice Weidel immer wieder bediente Klischee von den "Messermännern" in die Mitte der Gesellschaft wanderte. "Er wird schon was gemacht haben", war in diesen Sommertagen des vorvergangenen Jahres immer wieder zu hören. Für viele blieb es in diesen ersten Tagen zu unvorstellbar, dass ein 16-Jähriger auf diese brutale Art und Weise sein Leben lassen muss, ohne eine Bedrohung für die Einsatzkräfte darzustellen. Die bislang vor Gericht zusammengefügten Puzzleteile zeigen, dass dies aber durchaus so passiert sein könnte.
Rudi Völler stolperte ins Populistenportal
Befeuert wurde die Aufregung vom ehemaligen Bild-Mann Julian Reichelt, dessen Radikalisierung im Sommer 2022 schon weit vorangeschritten war und dessen Plattform Nius im Herbst 2023 auch durch den Besuch des DFB-Sportdirektors Rudi Völler normalisiert wurde. Im August 2022 spielte Reichelt noch auf YouTube und der da unter dem Namen Twitter bekannten Plattform mit der Angst vor dem Fremden.
Mouhamed Dramé, so der Name des Getöteten, bezeichnete er unter dem Applaus der anonymen Masse keine zwei Tage nach dem Vorfall in der Dortmunder Nordstadt als "wahnsinnigen Messermann". Der Vorfall in Dortmund und das, was in den Tagen darauf passierte, war ein kleiner Baustein, der aus der Schutzmauer der Menschlichkeit in einem Land herausbrach. Es war beileibe nicht der einzige Baustein.
Von Klimaterroristen und Bauern
Als am vergangenen Wochenende eine Gruppe Jugendlicher mit einem Hilfeschrei in roter Farbe am Bundeskanzleramt bemerkbar machten, griff die Polizei mit brutaler Härte durch. Ein Bild zeigt einen Jugendlichen, der mit dem Knie einer Einsatzkraft auf den Boden gedrückt wird. Die als Klimaterroristen verschrienen Jugendlichen störten in den vergangenen Monaten häufiger den Verkehr, beschmierten das Brandenburger Tor mit Farbe und besetzten auch schon einmal die Rollbahn eines Flughafens. Die Politik bestellte die volle Härte des Gesetzes und bekam sie. Die Medien liebten es.
Parallel dazu kaperten rechte Kräfte die Bauernproteste. Das führte nicht nur zu einer versuchten Stürmung einer Fähre, auf der sich der Wirtschaftsminister Robert Habeck befand und allerlei anderen Gewaltandrohungen gegen Politiker, meistens aus dem Lager der Grünen, sondern auch zu Verletzten auf einer nach Berlin führenden Bundesstraße. Dort hatten vielleicht nur als Bauern verkleidete Personen in einer Nacht Barrikaden errichtet und Menschen in ihren Autos in diese hineinfahren lassen. Ein Aufschrei aus der Politik blieb aus. Die mit Galgen an ihren Traktoren durch die Republik fahrenden Bauern werden weitgehend auch von der Polizei verschont. Die Medien interessiert es kaum.
Pack die Liederbücher ein
Die von einer russischen Abhöraffäre mitgenommene Bundesregierung rudert orientierungslos und von einer keifenden Menge befeuert in die im Herbst anstehenden Wahlen in den Ländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Dort werden kräftige Zugewinne der AfD erwartet, egal, wie sehr sich die alten Parteien mit Guthabenkarten, Putzpflicht für Migranten der abtrünnigen Wählerschaft anbiedern. Die kurzzeitigen durch die "Correctiv"-Recherchen ausgelösten Proteste in fast allen Städten Deutschlands sind, nachdem sich die Mehrheit des Landes vergewissert hat, dass "nie wieder jetzt ist" abgeebbt. Sie blieben ohne größere Folge, waren offenkundig nur zu Selbstbestätigung gedacht. Pack die Liederbücher ein, allen sollen Danger Dan sein.
Unterdessen macht ein gesamtes Land Jagd auf die dritte Generation der RAF. Unter dem Gejohle der Öffentlichkeit werden die weiterhin auf der Flucht befindlichen Staub und Garweg nicht nur in der Bundeshauptstadt Berlin, sondern auch an Autobahnraststätten vermutet. Polizeieinsatz hier, Polizeieinsatz da. Unklar bleibt, welche akute Gefahr von ihnen überhaupt ausgehen mag und warum nicht ähnliche Energie in die Suche nach untergetauchten Personen aus dem rechten Lager fließt. Von dort ging in den vergangenen Jahren in den allermeisten Fällen die tödliche Gefahr aus.
Die Hassmaschinen
Als wären als diese hier nicht einmal am Rande komplett skizzierten inneren Probleme des führungsschwachen, von zahlreichen Streiks symbolisch gelähmten Landes nicht genug, sorgen die äußeren Konflikte in den Monaten für zusätzliche Unruhe. Der von der neuen Achse Russland und Iran ausgehende Brandring rund um Europa zieht sich von der finnischen Außengrenze der EU bis in den Jemen.
Diskutiert wird all das auf der von Elon Musk, dem rechtsauslegenden reichsten Menschen der Welt, vereinnahmten Plattform X, die vormals Twitter hieß, und mittlerweile einem digitalen Schlachtfeld gleicht. Dort stehen echte Gräueltaten gleichberechtigt neben von einer KI produzierten Fake Videos und der allwöchentlichen Aufregung über das hundsmiserable Aufbauspiel der Dortmunder Borussia oder eben die zuvor erwähnten Polizeieinsätze bei Bundesliga-Spielen.
Kaum jemand in der dortigen Hassmaschine will auf die über ein Jahrzehnt aufgebaute Reichweite verzichten und sonnt sich vielmehr im Ruhm der durch ewige Zuspitzung erreichten Herzen und Reaktionen. Das betrifft nicht nur Privatpersonen. Vielmehr plärren Markus Söder & Co. dort in voller Lautstärke mit. Doch nicht nur die Plattformen werden mit populistischem Müll überflutete. Er ist überall. Das Land watet knietief in diesem Sumpf und droht zu versinken.
Schlechter als Rumänien
Noch überhaupt nicht war an dieser Stelle die Rede von der vielfach skizzierten Bedrohung für das Unterhaltungsgeschäft Fußball, das sich in seiner Kapitalsucht immer tiefer in geopolitische Abhängigkeiten begeben hat. Mit der den Sport-Welt- und Kontinentalverbänden gegebenen Allmächtigkeit wurde das Spiel in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in die Hände von Staaten und Private-Equity-Unternehmen gelegt, die die ursprüngliche Idee des Gesellschaftsspiels Fußball aufgegeben und es auch mithilfe der wenig konkreten Bedrohungslage des Bedeutungsverlusts bei den jüngeren Generationen seiner Kraft beraubt haben.
Wenn kein Investor in die Bundesliga kommt, droht der Rückfall hinter die rumänische Liga, war eines der von der DFL-Führung entworfenen Szenarien. Die Fans hatten sich jedoch entweder nicht für dumm verkaufen lassen oder der internationale Vergleich war ihnen schlichtweg egal. Die, die die den Protest in die Stadien trugen oder ihn dort unterstützen, scherten sich nicht um die irrealen Funktionärsängste. Die notwendigen Gelder für das weltweite und verlustreiche TV-Spektakel können ohnehin kaum noch aufgebracht werden. Beginnend in den nationalen Ligen ist der Verdrängungswettbewerb noch lange nicht abgeschlossen, jedoch von einer derartigen Qualität, dass sich die meisten Vereine entweder von ihrer Identität oder ihren sportlichen Ambitionen verabschieden müssen. Das aber sind in dem hier skizzierten Endzeitszenario ohnehin nur Nebensächlichkeiten.
"United by Football. Vereint im Herzen Europas" lautet der Slogan des Turniers in diesem Sommer und es stellt sich unweigerlich die Frage, ob dieses Herz Europas überhaupt noch die Kraft hat, diese ohnehin zerrissenen Kontinent für wenigstens diesen einen Monat zu vereinen. Alles, was nach diesem Turnier kommen wird, verspricht wenig Hoffnung auf Erlösung. Trump, Russland, Gaza, die Landtagswahlen und der kaum noch zu stoppende Klimawandel. Vielleicht bleibt uns nur noch dieser Sommer bei der letzten Europameisterschaft aller Zeiten. Wir sollten ihn genießen.