Der Karpfen, der zu viel wusste
Auf der Kranichfarm wird Midsommar gefeiert. Dietfried Dembowski schaut Borussia Dortmund. Koi aber hat ein Problem. Die VdSwf zeigt sich besorgt.
Es war eine Hinrichtung. Darüber konnte es keine zwei Meinungen geben. Sie hatten ihn erst mit modernsten Drogen vollgestopft, ihn dann vor Schmerzen aufheulen lassen und danach ununterbrochen provoziert. Er hatte keinen Ausweg mehr gesehen. Er hatte nach denen geschnappt, die ihn gedemütigt hatten. Doch der Kampf war kein Kampf. Sie hatten ihn bald als "auffällig” identifiziert und waren mit schweren Waffen angerückt. Als er sich umdrehte, um abzutauchen, hatte einer der Polizisten auf ihn geschossen. An diesem Freitag endete ein Leben so qualvoll wie sinnlos.
Orson Wels war tot. Hingerichtet von Polizisten an einem See in Bayern. In der Welt der Fische war das die Nachricht der Woche. "Die brutale Hinrichtung von Orson Wels dokumentiert erneut die Gefahr, in der wir Fische uns seit einiger Zeit befinden. Polizeigewalt macht auch vor dem Wasser nicht Halt", hieß es in einer ersten Stellungnahme der Vereinigung deutscher Süßwasserfische (VdSwf). Die VdSwf forderte eine lückenlose Aufklärung der Ereignisse am Brombachsee. Sie wusste: Diese würde es nicht geben.
Koi hing traurig und mit angemessener Wut in den Algen, mit denen er zuvor ein "Justice for Orson" in den See geschrieben hatte. Dabei hatte er das, was passieren würde, schon sehen können. Das Blut von Orson hatte sich hier in seinem See, ganz am Ende, da hinten im Schatten der Trauerweide, ausgebreitet und es hatte Koi vorher mit einer lauten Explosion aus dem Schlaf gerissen.
Auch Dembowski konnte ihn nicht aufheitern. Er war zu Midsommar zurück auf die Farm gekommen. Mit ihm war der Rest der Bande angereist. Justin und Berenice Hagenberg-Scholz, Hauke Schill und Genevieve Heistek. Allein Johan Rottenberg hatte es nicht geschafft. Er hatte sich nach den jüngsten Bildern aus den Stadien der Klub-WM sofort in Richtung Amerika begeben. Die No-Shows ließen ihm keine Ruhe. Ihn faszinierte die Möglichkeit, irgendwo dort vielleicht sogar Miriam Wu aufzustöbern. Es würde sein Ansehen steigern. Vielleicht könnte er sogar JHS den Rang ablaufen?
Der Rest aber hatte sich zur Fete de la Musique auf die Kranichfarm begeben. Als Dembowski das Klub-WM-Vorrunden-Spiel des BVB gegen Mamelodi Sundowns (4:3) mit drastischer Nüchternheit analysierte und seine Erkenntnisse, seinen Unmut über Yan Couto in sein schwarzes Buch kritzelte, verschwand der Rest zum Soundcheck auf die Bühne.
Für den Abend hatten sich zahlreiche Gäste angekündigt. Sie wollten den längsten Tag des Jahres hier im Norden Brandenburgs feiern. Sie alle hatten die Gerüchte um "Die Kraniche" vernommen. Es hieß, "Die Kraniche" seien einer Band von solch epochaler Schönheit, dass sich jeder, der sie einmal gehört habe, mit Lebensglück und Liebe überhäuft werde. Ihr DJ-Set übersteige jede Vorstellungskraft. Du warst entweder für "Die Kraniche" oder du warst auf dem besten Weg, ein böser Mensch zu werden, hieß es. Niemand zweifelte das an.
Thies hatte den Weg aus München auf sich genommen, die "Musik-Maschine" hatte mit Sunna Bommer eine ihrer besten Schreiberinnen aus Hamburg geschickt, für die Berliner Szene war es ohnehin ein Heimspiel. Die Gäste drehten ihre Runden im See. Sie ahnten nicht, was sich nur wenige Stunden zuvor eben dort ereignet hatte. Sie tranken Weißweinschorle und Schulle. Sie bedienten sich aus gigantischen Getränkekübeln, die übers Gelände verteilt waren. Sie alle fieberten auf diesen ersten Auftritt von "Die Kraniche" hin.
Als es dunkel wurde und sich über das Gelände die ersten Lines von Hammers "Miami Vice Theme" legten, gab es kein Halten mehr. Die Menschen stürmten in Richtung Bühne. Sie wunderten sich, was der Mann mit dem Parka und der Schulle-Flasche vor der Bühne machte. Sie hatten ihn auf der Bühne erwartet. Dembowski aber saß auf seinem Klappstuhl an der Seite und lächelte. Er lächelte, als Jan Hammer direkt in die Knight-Rider-Melodie überging. Er wusste: Das war nur der Auftakt für einen epochalen Abend.
Dann ging der Vorhang auf. In der Mitte Dörte, um sie herum das Ehepaar Hagenberg-Scholz, die Heistek und seitlich versetzt am Bühnenrand Hauke Schill am Schlagzeug. Dörte blickte in das Publikum. "Wir sind Die Kraniche und das hier ist ein Lied über einen Karpfen, der zu viel wusste”, sagte sie. Euphorische Rufe aus dem Publikum. "Genau", rief eine.
Dörte schwieg, sie schwieg auch bei den ersten Klängen und hauchte bald "Einen Tag fand er den Grund" in das Mikrofon. Andächtige Stille. Das hatten sie nicht erwartet. Überall. Dörte Stimme setzte ein. "Als es nicht mehr weiterging. Lama fort und Kranich hin." Zwei Sätze von entsetzlicher Klarheit. Danach verschwimmt alles. Bilder von Menschen, die sich in den Armen liegen, die Tränen verdrücken, die das Wort "Zugbrückenunglück" wiederholen, bis es kein Wort mehr ist.
Musik als Hauch, wie auch der zweite Song "Koi zieht mit den Kranichen". Sternenklare Nacht. Als die Sonne aufging, tanzten sie immer noch. Justin Hagenberg-Scholz hatte abgeliefert. Sein DJ-Set unter dem Namen "Die Kraniche" war sofort historisch. Für einen Moment hatte es die Vergangenheit ausgelöscht und jeden Gedanken an die Zukunft zerstört. Es gab nur diesen einen Ort, es gab nur diese eine Zeit. Es war ihre Zeit. Koi aber blieb der Fisch, der zu viel wusste. Die Welt zerbrach auf seinen Flossen.
Weit weniger euphorisch äußerte sich Sunna Bommer später in der “Musik-Maschine”. Sie betrank sich erst mit den Kranichen und schrieb danach einige Zeilen voller Verachtung.
Zugbrückenunglück - der Titel verspricht Drama, was folgt, ist ein akustisches Stehenbleiben bei offenem Schlagbaum. Die Kraniche, angeführt von der bemüht-andächtigen Dörte, liefern mit ihrer Debütsingle exakt das, was passiert, wenn Leute Musik machen, nur weil sonst niemand da ist, der Nein sagt. Ein Karpfen namens Koi soll hier tragender Erzähler sein - das sagt alles. Die Melodien wirken, als habe man zufällig drei Akkorde gefunden und dann aus Höflichkeit behalten. Dörtes Stimme ist zwar klar, aber ohne Ziel, ohne Not. Die B-Seite? Noch so ein Teich.
Was bleibt, ist ein Konzept, das nach Kunst riecht, aber müde im Morast liegt. Und Dembowski, der Ermittler? Der ermittelt wohl gerade, wie diese Band überhaupt ins Studio kam. Bleibt zu hoffen, dass die Zugbrücke bald wieder funktioniert - damit solche Musik ungehört weiterziehen kann. (Sunna Bommer)
Ganz anders Fachjournalist Thies, der dem DID folgende Nachricht übermittelte: “Als habe Sophie Hunger mit ilikeTrains paktiert. Ein Song von seltener Schönheit. Ein wichtiges Werk, das noch in Jahrzehnten weitergereicht werden wird.”
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. In der nächsten Folge wird Dietfried Dembowski sich wieder um den Fußball kümmern.