Dembowski findet einen Elefanten im Soldiner Eck
Jadon Sancho ist der Unterschiedsspieler, den der BVB überhaupt nicht gebraucht hat. Die Dortmunder Nostalgiewochen nehmen Fahrt auf, da findet der Ermittler einen Elefanten.
Dembowski erkannte das Soldiner Eck kaum wieder. Er wusste nicht, was er hier sollte. Er wusste aber, warum er hier war. Der Grund dafür saß ihm gegenüber und trieb ihn immer wieder an. „Wir müssen den Unterschiedsspieler für die Borussia finden“, rief Justin Hagenberg-Scholz und wischte sich ein wenig heiße Milch vom Mund. Schill hatte alles für sie vorbereitet. An der Wand beobachten sie die Flugbewegungen über Großbritannien. Denn es war natürlich Quatsch, was JHS da immer wieder voller Erregung von sich gab.
Der Unterschiedsspieler war längst gefunden. Es war Jadon Sancho, der sich nach seinem öffentlichen Scharmützel mit Erik ten Hag nicht einmal mehr auf der Bank von Manchester United wiedergefunden hatte. Die Red Devils hatten vor knapp 30 Monaten rund 85 Millionen Euro für den kommenden Superstar des englischen Fußballs bezahlt.
Sie hatten einen Spieler erhalten, der nach seinem vergebenen Elfmeter im EM-Finale und dem anschließenden rassistischen Spießrutenlauf monatelang auf einen Treffer wartete. Sie hatten Spieler erhalten, der dann irgendwann am Druck zerbrach, sich zurückzog und danach aus der Anonymität der Unsichtbarkeit heraus seinen Kampf mit dem Trainer des Klubs, der jeden Spieler noch schlechter machte als der BVB, gesucht hatte.
BVB - eine Misserfolgsgeschichte
Vier Monate nun war er ohne Einsatz und sollte jetzt mit seinen 23 Jahren seinen Landsmann Jamie Bynoe-Gittens und den dauerverletzten Julien Duranville auf die richtige Spur setzen. Vielleicht könnte sogar Weltmeister Paris Brunner von ihm profitieren. Wahrscheinlicher war, dass nichts passieren würden und Sancho nach ein paar Wochen mopperten auf der Bank versauern würde. Der BVB und seine Rückkehrer, eine Misserfolgsgeschichte wie sie im deutschen Fußball selten zu beobachten war. Nostalgiewochen im Westfalenstadion. Wo sollte das alles noch hinführen?
„Der BVB hat den doch längst gefunden“, murmelte also Dembowski und JHS fuhr aus der Haut. „Hast Du überhaupt verstanden, worum es hier geht? Es geht um die Zukunft der Dortmunder Borussia!“ Der Ermittler konnte mit so viel Fatalismus wenig anfangen und hörte bei den nächsten Ausführungen nicht weiter hin. JHS redete und redete über die fehlenden Außenverteidiger, das Tempo, die Wichtigkeit jetzt endlich einen Ersatz für Raphaël Guerreiro zu finden, den man ja nie hätte ziehen lassen dürfen, schon gar nicht zu den Bayern.
Dazu warf er ein paar Videosequenzen auf die Leinwand, erklärte den fehlenden Spielaufbau des BVB mit etlichen Dreiecken, die er scheinbar willkürlich über die Sequenzen legte und ging dann über zu Videos von Bayer Leverkusen. „Weltklasse“, rief er aus, als er Jeremie Frimpong einen Raum fand. „Geisteskrank“, schrie er und schaute sich einen Freistoß von Alejandro Grimaldo unzählige Male an. Er stoppte, wenn Grimaldo den Ball traf, zoomte rein und jubelte über die perfekte Berührung. „So etwas kannste nur von einem wie Alonso lernen.“
Leverkusen 2024 ähnlich großartig wie Wolfsburg 2015
Dembowski wollte das alles nicht hören. Ja, unter dem Supertrainer Xabi Alonso war Bayer Leverkusen die Schau des Jahres. Aber was interessierte ihn das? Er konnte dafür keine Leidenschaft entwickeln. Irgendwann in ein paar Jahren würde man das Leverkusener Team 23/24 vielleicht in einer Reihe mit der Elf vom Mittellandkanal aus dem Jahr 2015 vergleichen. Die hatten unter dem King und mit Kevin de Bruyne auch ansehnlichen Fußball gespielt, doch ansonsten keine bleibenden Spuren in den Herzen der Menschen verlassen.
Doch an genau diesen Spuren war der Ermittler in diesen ersten Tagen des Jahres 2024 interessiert. Es war die Zeit, in der die DFL unverhohlen damit drohte, eine Dokumentation über die Liga in Auftrag zu geben. „Gänsehaut oder Graugans. Es ist ein schmaler Grat“, dachte Dembowski und daran, wie er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass eine Verdichtung einer kompletten Saison auf ein paar Folgen überhaupt Sinn ergeben könnte.
Darüber wollte er eigentlich mit Justin Hagenberg-Scholz sprechen. Doch es graute ihm davor. Zu frisch war die Wunde, die der Datenanalyst damals vor nun über einem Jahr aufgerissen hatte. Damals hatte er sein wahres, käufliches Gesicht gezeigt und immer noch hing er ja mit einem Bein drüben im neuen Königreich des Fußballs. JHS hatte sich für die hässliche Fratze des entstellten Fußballs entschieden und war im Grunde nicht mehr zu gebrauchen.
Xhaka, Xhaka, Xhaka
Doch wer war ihm schon geblieben? Klar war doch auch, dass ein schwarzes Schaf hell scheinen konnten. Dembowski wollte überhaupt nicht in diese Grundsatzfragen einsteigen, sie waren ihm zu heikel. Und deswegen nahm er weiter die Name Xhaka, Wirtz, Boniface und Schick war. Er hörte, wie JHS zu einer Schimpftirade ansetzte, dem BVB schwere Vorwürfe machte und er nahm auch wahr, wie JHS sagte, dass er sogar schon mit Benny Grund telefoniert habe und der ihn bei jeder seinen Analysen nur bestätigen könnte.
Doch was war Borussia Dortmund wirklich? Waren es die Spieler dort unten auf dem Rasen oder waren es nicht viel mehr, wie überall, wenn es um Fußball ging, nicht viel mehr, ganz andere Bausteine, die diesen Klub aufstellten. Es gab gravierende Unterschiede in der Wahrnehmung. Besonders zwischen denen, die den Klub aus der Entfernung verfolgten, sich an den Misserfolgen labten und alles immerzu anzweifelten und denen, die schon immer da waren auf der anderen Seite. Die waren anders. Mit der Summe der Erinnerung, die sie Tradition nannten und doch alle ganz anders für sich abgespeichert hatten, machten sie ihre Leidenschaft nicht mehr von dem abhängig, was dort auf dem Platz passierte.
BVB ein höchst durchschnittlicher Klub
Denn als Fußballfan ging es rund 90 Prozent der Zeit ohnehin nur darum, den Überlebenskampf seines Vereins zu begleiten. Zu gewinnen gab es wenig. Und in den letzten Jahren noch viel weniger. Das mochte für Außenstehende bei Borussia Dortmund befremdlich wirken, denn anders als die Schalkes, Hamburgs, Werders und Herthas dieser Republik waren sie nie wirklich in Gefahr geraten, doch im Endeffekt hatten sie, wie Dembowski ja immer wieder dachte, in den letzten Jahren immer gegen den Abstieg gespielt.
Erfolgreich, denn aus der Champions League hatte sie nicht einmal Sergej W. mit seinem perfiden Anschlagsplan auf die Leben der Spieler vertreiben können. Sie waren immer da und spielten so mit. Manchmal bis zum Viertelfinale und meistens aber eher bis zum Achtelfinale. Sie waren ein durchschnittlicher Klub in Europa und ein guter in Deutschland geworden.
JHS liebt heiße Milch
All das hatten sie ja am Ende eben auch Hans-Joachim Watzke zu verdanken. Der hatte den Klub in einer tiefen Krise übernommen und mit dem Glücksgriff Klopp eben auf diese Ebene gehoben. Doch der Sauerländer war zunehmend erschöpft, wirkte längst nicht mehr unangreifbar und würde sich schon bald darum kümmern müssen, einen Nachfolger zu finden. Einen, der den BVB in die neue Phase überführen würde. In eine, die die Watzke-Jahre hinter sich lassen würde und in der niemand ihm nachhängen würde.
„Ich glaube“, sagte Dembowski zu JHS, „was wir wirklich machen müssen ist Folgendes: Wir müssen keinen Unterschiedsspieler für den BVB finden, denn letztendlich wird sich Geld immer durchsetzen und wenn es nicht klappt, dann ist es eben so. Wir müssen jemanden finden, der wirklich einen Plan für die Borussia hat. Wir dürfen den Elefanten im Raum nicht länger ignorieren.“
JHS schaute ihn entgeistert an, trank von seiner heißen Milch und von irgendwo her sang jemand: „Everybody knows it never works / Everybody knows and me“. Dann öffnete sich die Tür und Genevieve Heistek bestellte ein Schulle. Es war dunkel geworden. Auf der Videowand hob ein Flieger in Richtung Spanien ab. Plötzlich erkannte auch Dembowski das Soldiner Eck wieder. Mit ein wenig Schulle hatte er noch jeden Fall gelöst.